Angehende Chirurgen üben an Modellknochen aus Polyurethan-Hartschaum

Übung macht den Meister. Das gilt selbstverständlich auch für Ärzte. Wie aber kann ein Knochenchirurg eine neue Operationsmethode üben, wenn nicht am lebenden Objekt?

Früher hieß die Alternative: „An der Leiche“ oder an reichlich vorhandenen Schafsknochen. Ersteres warf hygienische, logistische und schließlich auch ethische Fragen auf, letzteres brachte Probleme mit sich, da Tierknochen den menschlichen Gebeinen nur bedingt ähneln. Seit einigen Jahren heißt die Lösung „Polyurethan“ – in Form von Knochenmodellen, die die Schweizer Firma Synbone, Malans, aus PUR-Rohstoffen der Bayer AG fertigt. Die Wahl des Werkstoffs ist sehr wichtig für den Einsatz im Hörsaal: Nur die richtige Balance der Materialeigenschaften in der harten Schale und dem geschäumten Kern der Kunstknochen vermittelt den Chirurgen in spe das korrekte „Operations-Gefühl“.

„Massive Werkstoffe wie Epoxydharze oder Harnstoffsysteme kommen für realitätsnahe Knochenmodelle ebenso wenig in Frage wie zum Beispiel Holz,“ sagt Hans Pein, der als Techniker bei Synbone für die Entwicklung der PUR-Knochenmodelle zuständig ist. „Denn der menschliche Knochen besteht aus einer stabilen, nur wenige Millimeter dicken Hülle, der Kortikalis, und einem porösen Inneren, der Spongiosa. Realistische Knochenmodelle müssen beide perfekt nachbilden.“ Denn die porösen Knochen bieten dem Arzt einen ganz anderen Widerstand, wenn Bohrer, Schraube oder Marknagel erst einmal durch die harte Kortikalis gedrungen sind. Und genau dieses mechanische Verhalten muss ein Chirurg kennen, wenn er einem Patienten zum Beispiel eine Metallplatte passgenau und fest auf einen gebrochenen Oberarmknochen schrauben will.

Die Knochen, die bei Synbone in der Schweiz gefertigt werden, geben den übenden Ärzten tatsächlich das Gefühl, mit echten Patienten zu arbeiten: bis auf das etwas niedrigere Gewicht entsprechen sie realen Knochen in Operationshandling und Aussehen nahezu perfekt – selbst kleine Grübchen und Sehnenansätze auf der Oberfläche echter menschlicher Knochen sind dem Original täuschend echt nachempfunden. Damit lassen sich – anders als bei Tierknochen – auch orthopädisch bis ins Detail vorgeformte Metall-Implantate, wie sie zum Beispiel die Schweizer Firma Mathys Medizinaltechnik GmbH herstellt, perfekt an die Modellknochen anpassen.

Um das mechanische Verhalten echter Knochen so exakt nachzubilden, mussten Hans Pein und seine Mitarbeiter jedoch einige Entwicklungsarbeit in das Projekt stecken. „Im Prinzip kommen bei Synbone die selben Rohstoffe zum Einsatz, aus denen man anderswo zum Beispiel komplex geformte, schlagzähe Gehäuse elektrischer Geräte herstellt – die Synbone-Schulungsknochen basieren letztlich auf dem Bayer-Polyurethan Baydur® 60,“ sagt Dieter Skoupi, Polyurethan-Experte bei Bayer. Insbesondere die Modellierung der porösen Spongiosae erforderte aber einige Kunstgriffe bei der Formulierung der verwendeten Polyurethan-Rezeptur. Bei der Entwicklung konnte Pein jedoch auf technische Unterstützung durch PUR-Anwendungstechniker der Bayer AG zurückgreifen.

Gefertigt werden die PUR-Sandwich-Knochen in zwei Schritten: Zunächst wird in speziellen Mehrfachformen im Niederdruckverfahren die hartschaumartige Spongiosa hergestellt; diese wird dann in einer auf kleine Austragsmengen ausgelegten Hochdruck-Anlage des St. Augustiner PUR-Technologie-Spezialisten Hennecke mit der harten Außenhülle versehen – die Zykluszeit liegt bei jeweils etwa zehn Minuten. Letztlich sorgt die PUR-Technik aber nicht nur für ein realistisches Innenleben der Übungsgebeine. „Sie erlaubt überhaupt erst deren wirtschaftliche Produktion, denn die besonders wirtschaftlichen Formen, die bei der Polyurethan-Formteilfertigung zum Einsatz kommen können, ermöglichten, anders als die Verarbeitungstechnologie thermoplastischer Kunststoffe, auch eine Kleinserienfertigung,“ sagt Skoupi. Das hat Vorteile: Synbone produziert zwar pro Tag auf vier Anlagen zwischen 300 und 400 Knochen – jedes Jahr rund 100.000. Diese verteilen sich jedoch auf 200 verschiedene Modelle – vom einfachen Oberschenkelknochen bis zu komplexen Wirbelsäulen- oder Fußmodellen, die aus 28 und mehr verschiedenen Teilknochen zusammengesetzt werden.

Nach der Entformung müssen die Modelle nur noch entgratet und gezielt gebrochen werden – denn die Chirurgen müssen in den Seminaren, in denen sie zum Beispiel das Anpassen der Mayths-Implantate an einen Unterschenkel-Trümmerbruch üben, auf „Normbrüche“ zurückgreifen können. „Wie realistisch unsere Polyurethan-Knochen sind, kann man schon daran erkennen, dass die Bruchlinien hier wie im Original verlaufen,“ sagt Pein. „Damit zeigt sich einmal mehr, was die ungeheuer vielseitigen Polyurethane heute leisten können,“ sagt Skoupi. „Der intelligente Einsatz unserer PUR-Rohstoffe hilft hier nicht nur einer innovativen Firma, eine Marktnische zu besetzen – er könnte indirekt durchaus jedem zu Gute kommen, der sich einmal mit einem Knochenbruch in die Hände eines gut ausgebildeten Chirurgen begeben muss.“

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