Evidenzbasierter Wissenschaftsjournalismus scheint eine Utopie zu sein

Für Wissenschaftsjournalisten in der Medizin ist es im Interesse der ehrlichen Berichterstattung unerlässlich, Kernkompetenzen in der Beurteilung der Gültigkeit und Reichweite biomedizinischer Forschungsergebnisse und damit Grundkenntnisse der Evidenzbasierten Medizin zu besitzen.

Bei der morgendlichen Lektüre der Tageszeitung springen Sie einem ins Auge: die frohen Botschaften und Heilsversprechungen aus der biomedizinischen Forschung. „Schokolade kann schlank machen“, so titelt die Süddeutsche Zeitung kürzlich auf ihrer ersten Seite. Süßer könne die Botschaft aus der Ernährungsforschung kaum sein, heißt es dort: „Regelmäßige Schokoladen-Esser sind einer US-Studie zufolge dünner als Abstinenzler.“ Die Badische Zeitung schlussfolgert sogar im Sinne einer Intervention: „Schlanker werden durch Schokolade“, so würden die Ergebnisse einer „bahnbrechenden Studie aus Amerika“ lauten.

Diese bahnbrechende Studie entpuppt sich beim Zugang zur Originalarbeit als Research Letter über eine Querschnittstudie, die die Assoziationen zwischen Häufigkeit des Schokoladenkonsums mit dem Body Mass Index untersucht (Golomb et al. Arch Intern Med 2012). Vergleichbare Botschaften lauten: „Junge Partnerinnen verlängern das Leben“, „Brokkoli verlängert Leben“, „Kaffee schützt vor dem Vergessen“, „Alkohol gegen Rheuma“, „Mutterliebe gegen Stress“. Endlos ließe sich diese Liste weiterführen, eine Liste der (un-)bewussten Irreführung der Bürgerinnen und Bürger, indem epidemiologische Studien, ob Querschnitt- oder Langzeitbeobachtungen, kausal interpretiert werden und gar präventiv-therapeutische Schlussfolgerungen gezogen werden. Oftmals bedient die Berichterstattung mit diesen Schlagzeilen Wunschvorstellungen zu Genussmitteln und konservativen moralischen Gesellschaftsbildern. Ursache-Wirkungsabhängigkeit wird dort behauptet, wo ausschließlich Zusammenhänge konstatiert werden dürfen, die eben so wenig ursächlich sein müssen oder können wie der Zusammenhang zwischen Storchenflug und Geburtenhäufigkeit.

Diese epidemiologischen Trugschlüsse hatten vielfach tragische Konsequenzen, wenn Assoziationen – kausal interpretiert – als Grundlage präventiver und therapeutischer Empfehlungen instrumentalisiert wurden. Es sei an die so genannte Hormonersatztherapie erinnert, mit der Millionen von postmenopausalen Frauen weltweit Jahrzehnte lang behandelt wurden zur Lebensverlängerung und -verbesserung, basierend auf epidemiologischen Studien und Surrogatparameterstudien. Als tragischer internationaler Irrtum erwies sich dieses unkontrollierte Experiment auf Bevölkerungsebene, als der Nachweis aus kontrollierten Studien schließlich die fehlende Wirksamkeit auf klinisch relevante Endpunkte, aber die Schädlichkeit erbrachte.

Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) vergibt jährlich den Journalistenpreis, mit dem herausragende journalistische Arbeiten gewürdigt werden, die die Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin umsetzen. Es gibt sie also, die rationalen Bilanzierungen und kritischen Einschätzungen der Aussagekraft der wissenschaftlichen Beweislage. In der schnelllebigen Tagespresse fehlen sie jedoch bislang weitgehend. Dort werden die oftmals fälschlichen und euphemistisch verklärten Pressemitteilungen der akademischen Zentren oder medizinischen Journale repetiert (Woloshin et al. Ann Intern Med 2009), um Schlagzeilen zu generieren.

Das DNEbM hält dies für einen unzulänglichen und gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unverantwortlichen Zustand. Für Wissenschaftsjournalisten in der Medizin ist im Interesse der ehrlichen Berichterstattung unerlässlich, Kernkompetenzen in der Beurteilung der Gültigkeit und Reichweite biomedizinischer Forschungsergebnisse zu besitzen. Ebenso wie die Kenntnis der politischen Organe und Gremien eines Landes für einen Journalisten, der politisch Bericht erstattet, nicht entbehrlich ist.

Mit anderen Worten: Medizinjournalisten benötigen Grundkenntnisse der Evidenzbasierten Medizin. Das DNEbM hält auf seinen Jahrestagungen ein Kursangebot für Journalisten vor und Medien-doktor.de bietet sich zur selbstständigen Fortbildung an. Die Qualitätsunterschiede in der Medizinberichterstattung waren Anlass zu Gründung dieses Portals. Hier werden Bewertungen medizinischer Beiträge durch erfahrene Wissenschafts- und Medizinjournalisten bereitgestellt. Diese Aktivitäten sind jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn es nicht möglich ist, die Verantwortlichen der Medien selbst vom Wert der redlichen wissenschaftlichen Berichterstattung zu überzeugen und entsprechende Bildungsangebote in die Curricula der Journalistenbildung zu integrieren.

Quellen:
Golomb BA, Koperski S, White HL. Arch Intern Med 2012;172(6):519-21
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22450943
Journalistenpreis des DNEbM: „Evidenzbasierte Medizin in den Medien“
http://www.ebm-netzwerk.de/journalistenpreis
Woloshin S, Schwartz LM, Casella SL, Kennedy AT, Larson RJ. Ann Intern Med 2009;150(9):613-8

http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19414840

Kontakt:
Prof. Dr. Gabriele Meyer
2. stellvertretende Vorsitzende des DNEbM
Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft
Professur für Klinische Pflegeforschung
Universität Witten/Herdecke
Stockumer Straße 12
58453 Witten
E-Mail: Gabriele.Meyer@uni-wh.de

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