Die Wirklichkeit und das Internet


Vor einem unüberlegten, euphorischen Einsatz des Internets an den Schulen und Hochschulen warnt der Jenaer Medienphilosoph PD Dr. Mike Sandbothe. „Es besteht die Gefahr, dass die Schüler die Rückbindung der digitalen Informationen an die soziale Wirklichkeit verlernen, so wie sie uns bereits beim Fernsehen und Rundfunk abhanden gekommen ist“, befürchtet er. Statt junge Menschen zu Wissensmaschinen und Techno-Eremiten via Internet auszubilden, müsse die pragmatische Lernsituation in kleinen und übersichtlichen Gruppen – real von Angesicht zu Angesicht – ins Zentrum der Unterrichtskultur treten.

Nur wenn das gewährleistet sei, könne das Internet als eine wertvolle mediale Ergänzung in die reale Wirklichkeit integriert werden. „Das virtuelle Klassenzimmer, die virtuelle Gesellschaft, die sich nur noch in der Welt des Digitalen abspielt, ist eine Horrorvision, die letztlich unsere soziale Gemeinschaft unterminiert und zerstört“, so Sandbothe. Etwa 2-3 Prozent der Internet-Nutzer in Deutschland zeigen laut einer Studie der Humboldt-Universität Berlin bereits Suchterscheinungen, d. h. ihnen sind die realen Bezüge des Mediums zur Wirklichkeit, folglich ihre eigenen Wirklichkeitsbezüge verloren gegangen.

Sandbothe, der Zug um Zug eine pragmatische Medienphilosophie entwickelt hat, sieht prinzipiell aber gute Chancen, eine menschliche Dimension für die Nutzung des Mediums Internet zu erhalten. Das hänge damit zusammen, dass das Internet nicht nur eine rein abbildende Wiedergabe der Wirklichkeit anbiete, sondern auch pragmatische Handlungs- und interaktive Kommunikationsoptionen beinhalte. „Beim Fernsehen zum Beispiel ist das ganz anders“, analysiert der Philosoph Sandbothe. Das Bewusstsein, dass die Bilder und Töne, die in unser Wohnzimmer eindringen, noch etwas mit der tatsächlichen Umwelt zu tun haben, sei uns weitgehend verloren gegangen. Aus semiotischem Betrachtungswinkel hat sich die Verbindung von Zeichenbedeutung und Handlungspraxis aufgelöst, das Fernsehen generiert eine zirkulär in sich geschlossene Symbol-Welt, die von pragmatischen Raum-Zeit-Bezügen losgelöst ist.

Das Internet sei zwar auch ein weltumspannendes Massenmedium mit ad-hoc-Charakter, biete dem Nutzer aber zugleich aktive Eingriffsmöglichkeiten: Schon wenn man auf ein Bildsymbol klickt, um ein neues Fenster zu öffnen, dann funktioniere dieser Button nicht bloß als Bild, sondern zugleich als Instrument. Auf eine Bestellung in einem Internet-Katalog erfolgt die prompte Bestätigung des Versandhauses; das Agieren im Web zeitigt praktische Konsequenzen im Leben. Im Live-Chat verwenden die Internet-Nutzer die Schriftsprache genauso zur unmittelbaren Interaktion wie sonst die gesprochene Sprache in einem realen Face-to-face-Gespräch. Und im Cyber-Game interagieren sie mit funktionalen Stellvertretern ihrer Persönlichkeit, die zwar zumeist pseudonym, aber nach absichtsvollen Kriterien konstruiert sind.

„All das sind Beispiele dafür, wie das Internet als Medium einen pragmatischen Wirklichkeitsbezug aufrecht erhalten kann“, findet Sandbothe. „Es ist nicht nur ein Apparat, mit dessen Hilfe wir Wirklichkeit erkennend abbilden oder konstruieren, sondern zugleich auch ein Instrument, mit dem wir Wirklichkeit kooperativ gestalten und handelnd verändern können.“ Kulturprägende Medien verändern nahezu unbemerkt vom Einzelnen sein alltägliches Selbst- und Weltverständnis. „Wenn wir im Fernsehen Flutkatastrophen oder Kriegsgreuel sehen, dann betreffen uns diese Bilder heute kaum noch“, so Sandbothe. Diesen passiven Medienkonsum vermag das Internet hingegen durch aktive, als pragmatisch wahrgenommene Kommunikationsangebote zu durchbrechen. So hat sich z. B. die politische Opposition in China auch mit Hilfe von demokratischen Internet-Foren organisiert, die von den Machthabern beargwöhnt und nach Kräften bekämpft werden.

Eine Gefahr entdeckt Mike Sandbothe in der zunehmenden Kommerzialisierung des World Wide Web: „Damit wird das Internet zum Unterhaltungsmedium, das uns wie das Fernsehen Scheinwelten vorgaukelt und die Flucht aus unseren realen Seinsbezügen leicht macht." Die geplante Fusion von Time Warner, einem der größten Film- und Fernsehkonzerne, mit dem weltmarktführenden Internet-Provider America Online (AOL), oder die Übernahme der anarchisch entstandenen Musikbörse Napster durch den Medienriesen Bertelsmann unterstreichen diese Tendenz.

Gegensteuern könne man, indem junge Leute frühzeitig in Kindergarten, Schule und Universität eine anspruchsvolle Medienkompetenz erwürben, die die soziale Interaktion zwischen Menschen über uniforme Unterhaltungsangebote stellt. Nur wenn die Rückbindung der Daten im Web an die eigene reale Identität bewusst bleibe, komme der Internet-User sich nicht im virtuellen Overload selbst abhanden.

Ansprechpartner:
PD Dr. Mike Sandbothe
Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
E-Mail: mike.sandbothe@uni-jena.de
URL: www.uni-jena.de/ms


Aktuelle Publikationen von PD Dr. Mike Sandbothe zum Thema:
Die Renaissance des Pragmatismus, hrsg. von Mike Sandbothe, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000.
Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten, hrsg. von Mike Sandbothe und Winfried Marotzki, Köln: Herbert von Halem Verlag 2000.

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