Halbe Heimat Deutschland: Bremer Studie über das Selbstverständnis türkischer Migranten

Verhindern die Barrieren zwischen Deutschen und Türken ein respektvolles Zusammenleben in der Bundesrepublik? Bremer Politologen haben dieses Thema in der Studie „Zur kollektiven Identität türkischer Migranten in Deutschland“ untersucht. Ergebnis: Es gibt ein eigenes Selbstverständnis der Türken in Deutschland; daneben sind sie aber auch der deutschen Gesellschaft positiv zugewandt.

Für Türken und Türkinnen in Deutschland ist klar: „Türke bleibt Türke, deutsch bleibt deutsch“. Sind also die Barrieren zwischen Deutschen und Türken so hoch, dass ein respektvolles Zusammenleben in der Bundesrepublik nicht möglich ist? Bremer Politologen haben sich dieser Fragestellung mit der Studie „Zur kollektiven Identität türkischer Migranten in Deutschland“ genähert. Sie warnen vor einer Fehlinterpretation dieser Äußerung. Die Schlussfolgerung aus ihrer Untersuchung lautet vielmehr: Es gibt ein eigenes Selbstverständnis der Türken in Deutschland; dies steht aber nicht im Widerspruch dazu, dass Türken positiv der deutschen Gesellschaft gegenüber stehen. In der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Untersuchung haben die Wissenschaftler vom Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen unter Leitung von Professor Bernhard Peters mehr als 100 ausführliche Interviews mit türkischen Migrantinnen und Migranten der ersten und zweiten Generation geführt.

Für alle Interviewten war selbstverständlich, dass ihre Identität türkisch geprägt ist. Die ethnischen Wurzeln sind offensichtlich und werden nicht negiert. Doch die Türken in Deutschland haben eine eigene Identität entwickelt, die über diese Wurzeln hinausgeht und die Lebenssituation in Deutschland widerspiegelt. Die kollektive Identität bildet sich durch die Zugehörigkeit zu den Türken, die in Deutschland ihre Erfahrungen mit der Umwelt gesammelt haben. Auch wenn es nach wie vor enge persönliche Beziehungen zur Türkei gibt, wird das Land am Bosporus als ein fremd gewordenes Land wahrgenommen. Aber auch eine ausschließlich „deutsche“ Identität existiert in dieser Bevölkerungsgruppe nicht. „Wir sind Türken, aber Deutschland ist für uns eine halbe Heimat geworden“, ist eine typische Aussage für Migranten, die seit 30 Jahren in der Bundesrepublik leben und arbeiten und hier ihre „besten Jahre“ verbracht haben.

Der Islam ist das wichtigste verbindende Element im kollektiven Selbstverständnis der „deutschen“ Türken. Darüber hinaus gibt es Identitäts-Merkmale, die als typisch türkisch eingestuft werden: Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, Familienorientierung, menschliche Wärme, Spontaneität oder Freigebigkeit. Diese Eigenschaften werden durchaus im Kontrast zu den „kühlen“ Umgangsformen der Deutschen gesehen. Aber die Befragungsergebnisse haben auch deutlich ergeben, dass damit keine grundsätzliche Abgrenzung oder gar Ablehnung gegenüber der deutschen Umwelt verbunden ist. Viele Türken schätzen an der deutschen Gesellschaft ihre Verlässlichkeit, Ordnung und Freiheitsrechte. Auch der häufig demonstrierte türkische Nationalstolz widerspricht nicht der grundsätzlichen Wertschätzung der deutschen Gesellschaft. Mit offen rassistischem Verhalten im Alltag gehen die Migranten recht gelassen um. Sie machen nur eine kleine Gruppe der deutschen Bevölkerung dafür verantwortlich.

Auch wenn sich die zweite Generation türkischer Migranten nach wie vor mit dem Selbstverständnis der Türken in Deutschland identifiziert, verliert das Zugehörigkeitsgefühl an Bedeutung. Die jungen Türken setzen sich sehr differenziert mit den Werten und Normen ihrer Elterngeneration auseinander. Traditionen und Kulturelemente werden akzeptiert, wenn sie zur eigenen Lebensplanung in der deutschen Gesellschaft passen. Es wird freier und bewusster als in der ersten Migrantengeneration über das eigene Selbstverständnis entschieden. Auch für die jungen Migranten ist der Islam der entscheidende Faktor der Verbundenheit. Eine gemeinsame Identität der „deutschen“ Türken ist für die junge Generation noch erforderlich, da sie sich in der deutschen Gesamtgesellschaft nur unzureichend anerkannt fühlt. Die gesellschaftliche Benachteiligung in Ausbildung, Beruf und im Alltag wird von den jungen Türken in Deutschland viel intensiver wahrgenommen als von den Eltern. Auch das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen ist wesentlich weniger ausgeprägt als bei den älteren Türken.

Die Autoren der Bremer Studie sehen in der kollektiven Identität der türkischen Mitbürger in Deutschland keine Probleme für das Zusammenleben. Wie mit anderen Gruppen einer pluralen Gesellschaft auch gibt es natürlich für das gütliche Zusammenleben eine Reihe von Aspekten wie Religionsunterricht, Sprachkenntnisse oder der Umgang mit einzelnen Organisationen, die geregelt werden müssen. Die Furcht vor einer türkischen „Parallelgesellschaft“ halten sie für unberechtigt. Eine politische Dramatisierung, so die Bremer Wissenschaftler, würde erst die Probleme für das Zusammenleben schaffen, die man vorgibt zu bekämpfen.

Rosemarie Sackmann, Bernhard Peters, Tanjev Schultz, Kathrin Prümm: „Zur kollektiven Identität türkischer Migranten in Deutschland“. Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS). Universität Bremen. 2001.

Weitere Informationen bei:
Universität Bremen
Institut für Interkulturelle und Internationale Studien
Dr. Rosemarie Sackmann
Tel. 0421 / 218 3357
E-Mail: sackmann@barkhof.uni-bremen.de
und
Prof. Dr. Bernhard Peters
Tel. 0421 / 218 3365
E-Mail: bpeters@barkhof.uni-bremen.de

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Angelika Rockel idw

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