Wie erinnert das Gehirn?

Der Neuropsychologe Professor Axel Mecklinger erforscht mit seinem Team die Geheimnisse des Denkens.

Wir verstehen Sprache, lösen Probleme, erlernen Neues und erinnern uns an Erlerntes – hinter solchen so selbstverständlichen Fähigkeiten stehen komplexe Vorgänge: Für uns unsichtbar und unspürbar erbringt unser Gehirn Höchstleistungen. Eine Vielzahl von Prozessen läuft koordiniert an bestimmten Orten des Gehirns zu bestimmten Zeiten in bestimmter Reihenfolge ab.
Wie arbeitet das Gehirn dabei? Wie kommen diese zeitlichen und räumlichen Koordinationsleistungen zustande? Mit diesen Fragen beschäftigt sich an der Saar-Universität die Arbeitsgruppe von Professor Axel Mecklinger, der vor etwa einem Jahr vom Leipziger Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung auf den Saarbrücker Campus wechselte.

Im Zentrum des Interesses steht vor allem der weite Bereich des Gedächtnisses. Prof. Mecklinger untersucht, welche Gehirnregionen beim richtigen und falschen Erinnern, beim Wiedererkennen oder bei Vertrautheitsgefühlen beteiligt sind und wie die einzelnen Gehirnregionen dabei interagieren: Der Neuropsychologe erforscht, nach welcher Partitur die Musiker im Gesamtorchester Gehirn zusammenspielen. „Die Aktivität eines einzelnen ´Players´, wie die Gehirnregionen auch genannt werden, genügt nicht,“ erklärt Mecklinger. Nur das zeitlich abgestimmte Zusammenspiel macht die „Musik“.

Mecklinger kommt dieser Komposition mehr und mehr auf die Spur. In zahlreichen Experimenten hat er bereits zum richtigen, aber auch falschen Abrufen bestimmter Informationseinheiten im Gehirn aufsehenerregende Ergebnisse erzielt: So erlangte der Neuropsychologe mit Leipziger Kollegen in Fachkreisen weltweit Beachtung mit neuen Erkenntnissen zum Objekt- und Raumgedächtnis.

In Saarbrücken arbeitet Mecklinger derzeit unter anderem auch an der Modellierung des Gehirn-Netzwerks zum kontextfreien und kontextgebundenen Erinnern, also dem Erinnern mit oder ohne räumliche, zeitliche oder sonstige Bezüge. „Durch Experimentreihen mit Testpersonen, können wir die Vorgänge im Gehirn zeitlich und räumlich präzise rekonstruieren,“ so der Neuropsychologe.
Angewandt werden dabei Hirnstrommessungen im Elektroenzephalogramm (EEG) und die funktionelle Kernspintomographie. Durch mathematische Modellierungen, so genannte „Dipolmodelle“, werden die Ergebnisse beider Verfahren aufeinander abgebildet. „Die mit beiden Methoden gewonnenen Ergebnisse werden verglichen und kombiniert und ergeben so ein genaues räumliches und zeitliches Abbild der Gehirntätigkeit.“

Um zu ermitteln, wann exakt welche Prozesse ablaufen, werden so genannte „ereigniskorrelierte Potenziale“ herangezogen, das sind kleine aber systematische Spannungsschwankungen im EEG: Die Testperson – im Rahmen eines Experiments sind es insgesamt etwa 20 – trägt dabei eine spezielle Haube, die die Veränderungen der Hirnströme mit größter Genauigkeit misst. In einem typischen Experiment soll der Proband zum Beispiel alte und neue Wörter identifizieren; also Wiederholungen erkennen. Hierzu werden ihm Wortreihen semantisch ähnlicher Wörter gezeigt wie „Segeln“, „Schwimmen“ oder „Boxen“.
Nach einiger Zeit werden die Wörter wiederholt, diesmal aber sind neue Begriffe darunter, die semantisch irreführen und daher Erinnerungsfehler provozieren. Hier zum Beispiel „Tennis“ oder „Reiten“. „Die EEG-Messungen zeigen, dass die Hirnströme sich je nachdem unterscheiden, ob der Proband mit ´alten`, also vorher schon genannten, oder neuen Wörtern konfrontiert wird: eine Art Alt/Neu-Gedächtniseffekt ist zu erkennen,“ erläutert Professor Mecklinger.
Besonders aufschlussreich für die Forscher sind die falschen Erinnerungen. Die Saarbrücker Neuropsychologen gehen der Frage nach, ob hier die gleichen Gehirnregionen in derselben Zeit auf die selbe Art und Weise interagieren wie bei richtigen Erinnerungen:
„Schon nach knapp 300 Millisekunden unterscheiden sich Hirnströme für vorher genannte und neue Wörter. Interessanterweise finden sich diese frühen Gedächtniseffekte im Hirnstrombild auch bei falschen Erinnerungen: Wir sprechen hier von illusionärer Vertrautheit,“ so Mecklinger weiter. „Späte Gedächtniseffekte ab etwa 500 Millisekunden zeigen sich nur für richtige Erinnerungen; sie werden daher mit kontextgebundenem Erinnern gleichgesetzt.“

Mittels der funktionellen Kernspintomographie wird ermittelt, wo im Gehirn gedächtnisrelevante Prozesse ablaufen: Bei Aktivität benötigen die Regionen mehr Sauerstoff. Es kommt zu erhöhter Blutzufuhr, was wiederum den Magnetismus einzelner Blutbestandteile beeinflusst. Diese Veränderungen lassen sich mit der funktionellen Kernspintomographie messen und räumlich mit einer Genauigkeit von etwa einem halben Zentimeter lokalisieren. Hierzu trägt die Testperson, die in der Kernspin-Röhre liegt, eine Spezial-Spiegelbrille, mit der sie die Wortreihen mit alten und neuen Wörtern sieht. Beim Identifizieren (also Erinnern) alter und neuer Wörter muss sie verschiedene Tasten drücken. Beim richtigen, kontextgebundenen Erinnern sind Regionen des Schläfenlappens auf der Innenseite des Gehirns aktiv. Bei falschen Erinnerungen sind dort keine Veränderungen zu beobachten. Dafür wird eine Region an der Innenseite des Stirnhirns, der so genannte ACC, aktiv, der immer dann in Erscheinung tritt, wenn das Gehirn Konflikte lösen muss.

Mit der funktionellen Kernspintomographie lässt sich also der Ort der Gehirntätigkeit aufklären, indes liefert sie – im Gegensatz zur EEG-Methodik – keine Ergebnisse, wann beim Erinnern eine Gehirnregion aktiv wird: Es dauert an die fünf Sekunden bis sich Blutfluss-Änderungen in aktivierten Regionen einstellen. Das ist viel zu lange, um Abläufe einzuordnen, die im Millisekundenbereich stattfinden. Um den zeitlichen Ablauf einzelner Gedächtnisprozesse präzise zu ergründen werden die Ergebnisse aus EEG und funktioneller Kernspintomographie daher mit dem Verfahren der Dipolmodellierung auf Übereinstimmungen untersucht. Dieses Verfahren macht es möglich, die Vorgänge im Gehirn mathematisch zu modellieren und rückzurechnen, wann die Zentren im Gehirn (die so genannten Dipole) aktiv gewesen sind.

„Bei falschen Erinnerungsleistungen sind die Kontroll- und Steuerungsfunktionen des ACC im Stirnhirn ca. 600 bis 800 Millisekunden nachdem ein semantisch irreführendes Wort gezeigt wurde, verstärkt aktiviert,“ erläutert Mecklinger. „Die Testperson gerät in einen Konflikt: Sie zeigt eine Tendenz ´alt` zu sagen, weil ihr das irreführende – und in Wahrheit neue – Wort vertraut vorkommt, und diese Konfliktualität läuft vor allem auch im Stirnhirn, im ACC, ab.“
Obwohl richtiges und falsches Erinnern sich aus der Sicht der Probanden nicht unterscheidet, nimmt unser Gehirn sehr wohl eine Differenzierung vor: „Zum kontextbasierten, richtigen Erinnern benötigen wir Gedächtnisstrukturen auf der Innenseite des Schläfenlappens. Bei fehlerhaftem und kontextfreiem Erinnern tritt zwar das Stirnhirn in Aktion, es kann aber die falsche Gedächtnisleistung nicht verhindern“, so der Saarbrücker Neuropsychologe.

Die Erkenntnisse um die Abläufe im Gehirn sind von entscheidender Bedeutung für ein weites Feld der Forschung und Entwicklung: So können die Forschungsergebnisse Mecklingers zur Weiterentwicklung und Präzisierung der neuropsychologischen Diagnostik beitragen – etwa welche Hirnregionen von Sauerstoffarmut oder einem Schlaganfall betroffen sind. Auch für andere Bereiche wie die Sprach- und Aufmerksamkeitsforschung bis hin zu Fragen der Diagnostik frühkindlicher Entwicklungsstörungen erwarten die Wissenschaftler aus den neuropsychologischen Erkenntnissen Mecklingers neue Impulse. Daher setzt der Saarbrücker Forscher verstärkt auf interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Sie haben Fragen? Dann setzen Sie sich bitte in Verbindung mit Prof. Axel Mecklinger
Tel: 0681-302-6510/6515
Fax: 0681-302-6516
E-Mmail: mecklinger@mx.uni-saarland.de

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Claudia Brettar idw

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