Neue Erkenntnisse zu Bilzingsleben

Interdisziplinäres Forscherteam der Universität Jena hat aktuelle Grabungsergebnisse ausgewertet

Auf der Steinrinne bei Bilzingsleben (Nordthüringen) haben sich Ablagerungen einer Warmzeit des mittleren Pleistozäns (Eiszeit) erhalten. Diese Schichten waren seit längerer Zeit bekannt, ihre wissenschaftliche Bedeutung erkannte jedoch erst Dietrich Mania. Er führte hier von 1969-2002 Ausgrabungen durch. Dabei konnte er mit umfangreichen Tier- und Pflanzenresten eine international anerkannte paläontologische Sammlung zu einer etwa 500.000-300.000 Jahre alten Warmzeit erarbeiten. Die Reste von menschlichen Schädeln, die Mania unter den Tierresten fand, gehören zu den frühesten Menschenresten in Mittel- und Nordwesteuropa. Nur noch die Menschenknochen von Boxgrove (England) und Mauer (bei Heidelberg) sind älter.

Auch nach der Pensionierung von Dietrich Mania sind die archäologischen Ausgrabungen in Bilzingsleben durch Urgeschichtler der Universität Jena fortgesetzt worden. So waren hier 2004 u. a. über 60 Fachstudenten der Ur- und Frühgeschichte und Anthropologie aus ganz Deutschland über zweieinhalb Monate unter Leitung von Prof. Dr. Clemens Pasda tätig. Dabei hat auch ein Team um Prof. Dr. Reinhard Gaupp vom Institut für Geowissenschaften der Universität Jena geologische Untersuchungen durchgeführt. Die gemeinsam erzielten Ergebnisse sind der Wissenschaft 2005 auf der – für die deutschsprachige Urgeschichtsforschung zentralen – Tagung der Hugo Obermaier-Gesellschaft in Neuchâtel vorgestellt worden.

Die Jenaer Forscher haben bei den jüngsten Grabungen festgestellt, dass auf der Steinrinne eine 40-100 cm dicke, fundführende Schicht aus Schluffen und Sanden auftritt. Dort wurden vor allem zahlreiche kleine Travertingerölle sowie kleinste Knochen- und Feuersteinsplitter gefunden. Daneben gibt es bis zu 40 cm lange Knochen und verschiedene Gesteine bis zu 50 cm Durchmesser. Die dreidimensionale Einmessung jedes Funds zeigt, dass sowohl kleine als auch große Fundobjekte in dieser Schicht „schwimmen“ – die Funde sind also nicht auf ein bestimmtes Niveau beschränkt, sondern unabhängig von ihrer Größe in allen Höhenlagen chaotisch verteilt. Gleichzeitig zeigen die einzelnen Funde jedoch eine typische Einregelung ihrer Längsachsen. Das lässt auf die Richtung schließen, in die die Funde geschüttet wurden.

„Da die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, ist eine Deutung dieser Daten natürlich noch nicht mit Sicherheit möglich“, sagt Prof. Pasda. Die Geowissenschaftler der Uni Jena vermuten jedoch, dass die Knochen und Gesteine Bestandteil einer wassergesättigten, sandig-schluffigen Masse mit kleinen Travertingeröllen waren, die sich nach der deutlichen Fließbewegung in einer Art ,Schlammstrom’ ablagerten. Darüber haben sich in der Folgezeit mehrere Meter Travertingestein aufgebaut, was diese Fundschicht bis heute erhalten hat.

Zumindest in den 2004 ausgegrabenen Flächen ist kein primäres Begehungsniveau altsteinzeitlicher Menschen belegt. Im Gegenteil, es ist zu vermuten, dass die heutige Fundschicht während ihrer Schüttung alte Landoberflächen und Bodenschichten einbezog und deren Bestandteile sekundär einlagerte. „Eine solche Landoberfläche kann z. B. ein alter Talauenrest gewesen sein, der von Tieren und Menschen begangen wurde, auf und in dem Tierknochen und Gesteine lagen, der aber auch zeitweilig von stehenden und fließenden Gewässern erreicht wurde“, erläutert Pasda. Die Knochen könnten Reste von natürlich gestorbenen Tieren gewesen sein, die als Einzelknochen oder Teilskelette ganz typische natürliche Bestandteile von eiszeitlichen Flusstälern waren. Die wenigen, 2003 durch Untersuchungen mit Laser-Rasterelektronenmikroskopie nachgewiesenen Knochen mit Schnittspuren belegen aber auch, dass der Mensch Hand an einige dieser Knochen legte. Die in der Fundschicht enthaltenen Gesteine können vom Talhang oder aus Flussschottern stammen. Unter ihnen dominieren natürliche Feuersteine in Form von Geröllen, Trümmern und Frostbruch. Wie an anderen Fundplätzen mit ähnlichen Verhältnissen ist es damit auch in Bilzingsleben sehr schwierig nachvollziehbar, welche der Feuersteine von Menschen bearbeitet wurden. „Zum jetzigen Stand der Auswertung lässt sich nur sagen“, so Pasda, „dass ganz wenige der 2004 gefundenen Feuersteine wie eindeutig von Menschen produzierte Abschläge aussehen“.

Dass in eiszeitlichen Schichten mit zahlreichen Tierknochen auch Menschenknochen vorkommen, ist nicht außergewöhnlich, wie zahlreiche andere Fundorten belegen. Wahrscheinlich waren auch Menschenknochen natürlicher Bestandteil von eiszeitlichen Landoberflächen. Gerade das Auftreten von menschlichen Schädelteilen legt dies nahe, da sich bei natürlichen Zerfallsprozessen der Kopf recht früh vom Körper löst und er dadurch meist an ganz anderer Stelle als die übrigen Knochen des Skeletts abgelagert wird. Die Entdeckung eines weiteren menschlichen Schädelknochens unter den vielen von Dietrich Mania geborgenen Tierresten von Bilzingsleben ist deshalb nicht unwahrscheinlich. In den letzten Jahren wurden in Deutschland immer wieder neue Funde in schon vor Jahrzehnten ausgegrabenem, zwischengelagertem, zum Teil noch nicht inventarisierten Material gemacht. In Bilzingsleben würde sogar ein sonstiger, kopfnaher Menschenknochen nicht verwundern. Da sich auch unter den 2004 ausgegrabenen und im Frühjahr 2005 restaurierten Knochen menschliche befinden können, besteht ein regelmäßiger Austausch der Friedrich-Schiller-Universität mit Prof. Dr. Jean-Jacques Hublin, dem Leiter der Abteilung Paläoanthropologie am Max-Planck-Institut in Leipzig.

Ob ein Neufund von menschlichen Knochen in Bilzingsleben eine wissenschaftliche Sensation ist, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Von den Wissenschaftlern waren solche Funde allerdings fast immer erwartet worden. Sie sind zumeist außergewöhnlichen Erhaltungsbedingungen, besonderen Bergungsmitteln oder allein der Hartnäckigkeit der Forscher zu verdanken. Fortschritte der Wissenschaft sowie neue Erkenntnisse und Einsichten in die Vergangenheit haben jedoch nicht diese Einzelfunde gebracht. Sie werden erreicht etwa durch eine gezielte Grabungsmethodik und -dokumentation, die Anwendung neuer Auswertungsmethoden zur Untersuchung von Technologie und deren räumlicher Organisation, die immer exaktere naturwissenschaftliche Datierung oder die Einbeziehung von Theorien, Methoden und Ergebnissen aus anderen Wissenschaftsdisziplinen. „Oberflächlich betrachtet, entspricht damit Indiana Jones dem Idealbild des Archäologen – einer Forscherpersönlichkeit, die vom Schicksal gebeutelt unter Abenteuern nach dem einen wichtigen Fund sucht“, erläutert Prof. Pasda an einem populären Beispiel. „In der Realität findet Archäologie aber zu 90 % in einer Bibliothek oder einem Labor statt: Erst nach der Ausgrabung beginnt die spannende, detektivische Arbeit mit allen Funden und deren Kontext, die für Bilzingsleben sicher noch Jahre der Forschung in Anspruch nehmen wird.“

Doch auch im Feld geht es weiter. Die nächsten Ausgrabungen in Bilzingsleben werden im September und Oktober 2005 durchgeführt.

Außerdem arbeiten die Friedrich-Schiller-Universität und die Landesämter für Archäologie in Thüringen und Sachsen-Anhalt derzeit an einem neuen Leihvertrag für die „Sammlung Bilzingsleben“. Für diese könnten die Räumlichkeiten der ehemaligen Handschriftensammlung genutzt werden, in denen schon die Funde der neuen Grabungen ausgewertet werden.

Media Contact

Axel Burchardt idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-jena.de

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