Exotisches Feuerwerk im Gehirn – neuartige mathematische Objekte in Modellen neuronaler Netzwerke entdeckt

Die Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen des menschlichen Gehirns entstehen durch das Zusammenspiel von Millionen von Nervenzellen. Auch die Leistungen anderer biologischer Systeme beruhen auf dem Zusammenwirken einer großen Zahl dynamischer Elemente. Für das Verständnis solcher Systeme erlangt die Mathematik eine immer größere Bedeutung. Doch die Mathematisierung biologischer Probleme kann umgekehrt auch völlig neue mathematische Konzepte hervorbringen. Ein Team theoretischer Physiker am Göttinger Max-Planck-Institut für Strömungsforschung hat jetzt bei der Analyse des Zusammenspiels von Nervenzellen im Gehirn erstmals Objekte entdeckt, die in der Mathematik bislang unbekannt waren (Physical Review Letters 89:154105, 7. Okt. 2002 und Physical Review Letters 89:258701, 16. Dez. 2002).

Diese so genannten instabilen Attraktoren geben komplexen Systemen eine bislang nicht gekannte Flexibilität und eröffnen neue Horizonte für die praktische Anwendung neuronaler Netze. Zudem gelang den Forschern erstmalig, die Dynamik in Netzwerken mit sehr komplizierter Verknüpfungsstruktur mathematisch exakt zu analysieren. Dabei stellte sich heraus, dass in ein und demselben Netzwerk – entgegen bisherigen Annahmen – sowohl eine sehr geordnete, zeitlich periodische, als auch eine ungeordnete, zeitlich irreguläre Aktivität auftreten kann.

Nervenzellen kommunizieren miteinander durch den Austausch kurzer elektrischer Impulse, so genannter Aktionspotentiale: Überschreitet das elektrische Potential, das zwischen dem Inneren einer Nervenzelle und seiner Umgebung besteht, einen kritischen Schwellwert, wird ein ungefähr eine tausendstel Sekunde langer Impuls, also ein Aktionspotential erzeugt. Nach einer Laufzeit von einigen tausendstel Sekunden erreicht dieser Impuls über Kontaktstellen (Synapsen) andere Nervenzellen. In den empfangenden Nervenzellen führt er zu einer Veränderung des elektrischen Potentials und beeinflusst dadurch, ob und wann diese Zellen ihrerseits wieder Signale aussenden.

Dieses komplexe Zusammenspiel von Nervenzellen kann in mathematischen Modellen, so genannten „Netzwerken pulsgekoppelter Oszillatoren“, durch einfache Regeln beschrieben werden. Bei der Simulation dieses Zusammenspiels am Computer hatten die Göttinger Wissenschaftler bereits entdeckt, dass dabei oft sehr spezifische zeitliche Muster der neuronalen Signale von Nervenzellen entstehen. Diese Muster werden in der Mathematik als „Attraktoren der Netzwerkdynamik“ bezeichnet. Beispielsweise kommt es häufig vor, dass ganze Gruppen von Nervenzellen durch wechselseitige Kommunikation ihre Aktivität synchronisieren und gleichzeitig Signale absenden, während sie gemeinsam eine Informationsverarbeitungsaufgabe lösen, wie etwa das Erkennen eines bekannten Gesichtes. Dieses Verhalten kann in einem mathematischen Modell als die zeitliche Entwicklung des Netzwerkzustandes in Richtung eines bestimmten Attraktors beschrieben werden. Attraktoren sind deshalb von fundamentaler Bedeutung für die Theorie der neuronalen Informationsverarbeitung.

In Netzwerken pulsgekoppelter Oszillatoren haben Marc Timme, Fred Wolf und Theo Geisel vom Max-Planck-Institut für Strömungsforschung nun einen neuartigen Attraktortyp entdeckt – instabile attraktive periodische Orbits, oder kurz instabile Attraktoren. Das sind Zustände, die in scheinbar paradoxer Weise sowohl anziehend als auch abstoßend auf die zeitliche Entwicklung eines Systems einwirken. In diesen Zuständen senden mehrere, in sich synchronisierte Gruppen von Nervenzellen ihre Signale in wiederkehrender Weise nacheinander aus. Paradoxerweise werden diese Zustände zwar von vielen verschiedenen Startzuständen des Netzwerks aus erreicht. Wird dieser Attraktorzustand jedoch nur geringfügig gestört, so dass die Nervenzellen einer Gruppe ihre Signale nicht mehr exakt zur gleichen Zeit absenden, zerbrechen die synchronisierten Gruppen und ein anderer Zustand bildet sich heraus. Die Göttinger Physiker zeigen mit ihren Arbeiten, dass dieses paradoxe Verhalten durch eine exotische Geometrie von so genannten Attraktionsbasins in der Netzwerkdynamik verursacht wird. Normalerweise ist ein Attraktor von seinem Attraktionsbasin umgeben, das alle Startzustände, aus denen der Attraktor erreicht werden kann, enthält. Doch wie die Göttinger Forscher zeigen konnten, ist dies bei den von ihnen untersuchten neuronalen Netzen nicht der Fall.

Dass es instabile Attraktoren geben könnte, hatte bereits der Mathematiker John Milnor im Jahre 1985 erkannt. Allerdings kannte man bislang kein System, in dem solche instabilen Attraktoren tatsächlich robust auftreten. Die Netze pulsgekoppelter Oszillatoren sind nun die ersten Modelle, in denen solche Attraktoren auch bei sich verändernden Parametern konstant auftreten. Wie sich herausstellte, dominieren instabile Attraktoren den Phasenraum großer Netzwerke für einen weiten Bereich von Parametern. Die Forscher konstruierten ein minimales mathematisches Modell, das diesen neuartigen Attraktortyp beinhaltet und es ermöglicht, seine dynamischen Eigenschaften mathematisch zu durchleuchten. Sie fanden außerdem heraus, dass der neu entdeckte Attraktortyp das dynamische Verhalten neuronaler Netze mit einer bisher nicht gekannten Flexibilität ausstattet: Instabile Attraktoren erlauben einem Netzwerk, sehr leicht von einem in den anderen Zustand überzugehen. Das ist ein bisher unbekannter Mechanismus, der auch im Gehirn eine Rolle spielen könnte und der in künstlichen neuronalen Netzwerken für die Informationsverarbeitung angewandt werden kann.

Darüber hinaus entdeckten die Max-Planck-Forscher eine weitere, fundamental neue mathematische Struktur, als sie die Synchronisation pulsgekoppelter Oszillatoren in sehr komplex verknüpften neuronalen Netzwerken untersuchten. Diese Netzwerke sind besonders für die Hirnforschung relevant, da neuronale Netze im Gehirn in der Regel eine sehr komplizierte Struktur aufweisen. Diese weicht stark von der weit verbreiteten theoretischen Vereinfachung ab, wonach von einer Nervenzelle zu jeder anderen Kontaktstellen bestünden, so dass alle Zellen vollständig miteinander verknüpft wären.

Um realistische, komplex strukturierte Netzwerke besser zu verstehen, haben die Göttinger Forscher die Synchronisation von Oszillatoren in Netzwerken mit beliebig komplizierter Struktur mathematisch analysiert. Dabei zeigte sich, dass bereits im einfachsten Fall, dem vollständig synchronen Zustand einer Gruppe von Nervenzellen, eine bisher unbekannte mathematische Struktur auftritt. Um diese Situation mathematisch in den Griff zu bekommen, mussten die Forscher deshalb neuartige Methoden entwickeln, wie Marc Timme beschreibt: „Für ein derartiges Problem existierte bislang keine allgemeine mathematische Theorie der Stabilität. Wir haben deshalb eigens Methoden für seine analytische Behandlung neu eingeführt. Wie wir zeigen konnten, lassen sich Konzepte aus der Graphentheorie verwenden, um die Stabilität des synchronen Zustands mathematisch zu beweisen.“

Aufbauend auf diesen für eine große Systemklasse gültigen Ergebnissen konnten die Max-Planck-Forscher ein theoretisches Verständnis der Dynamik zufällig verknüpfter Netzwerke erarbeiten, das weit über den bisherigen Erkenntnisstand hinausgeht. Für das wichtige Beispiel eines ungeordneten Netzwerks waren zuvor nur irreguläre Zustände vorhergesagt worden, in denen die einzelnen Nervenzellen asynchrone und zeitlich unregelmäßige Signalfolgen erzeugen. Im Gegensatz zu diesen Vorhersagen demonstrieren die Arbeiten der Göttinger Wissenschaftler erstmals die robust auftretende Koexistenz regulärer Zustände von synchronen, zeitlich wiederkehrenden Signalfolgen und irregulärer Zustände. Dieser Befund steht im Gegensatz zu der weit verbreiteten Annahme, dass nur das eine oder das andere zeitliche Verhalten in einem gegebenen neuronalen Netzwerk auftreten kann.

Weitere Informationen erhalten Sie von:

Dr. Fred Wolf
Max-Planck-Institut für Strömungsforschung
Abteilung Nichtlineare Dynamik
Tel.: 0551 – 5176-423
Fax: 0551 – 5176-409
E-Mail: fred@chaos.gwdg.de

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