Über 1000 Jahre verschollene Schrift entschlüsselt


Dr. Klaus T. Schmidt, Privatdozent am Institut für Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft und Indoiranistik der Saar-Uni, ist es gelungen, eine der beiden Varianten der nordturkistanischen Kharoshthi-Schrift zu entziffern. Es handelt sich dabei um Zeugnisse einer Sprache, die etwa bis ins das sechste/siebte Jahrhundert nach Christus an der nördlichen Seidenstraße im Königreich Kutscha, gebietsweise aber auch an der südlichen Seidenstraße, im Schriftverkehr der staatlichen Verwaltung und des Handels verwendet wurde.

Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden entlang der Seidenstraße in Ostturkistan, dem äußersten Nordwesten Chinas, zahlreiche Aufsehen erregende archäologische Funde gemacht. In verlassenen Höhlenklöstern, in Ruinen und im Sand der Wüste Taklamakan kamen auch viele tausend Handschriftenfragmente zutage, die auf Papier, Birkenrinde oder Holztäfelchen geschrieben waren: Zeugen spätantiker und frühmittelalterlicher Hochkulturen in Zentralasien, die größtenteils im Verlaufe des ersten nachchristlichen Jahrtausends untergegangen sind. Seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus stand das oft umkämpfte Ostturkistan mal mehr, mal weniger unter chinesischem Einfluss. Die Oasenstädte entlang der Seidenstraße, die als Zwischenstationen für Karawanen von großer Bedeutung waren, entwickelten sich zu kulturell vielfältigen Zentren. Zahlreiche Sprachen existierten hier nebeneinander: Nicht weniger als 17 verschiedene Sprachen in 24 verschiedenen Alphabeten wurden gezählt, die teils nur dem Namen nach, teils überhaupt nicht bekannt waren.
Eine dieser Schriften, die nordturkistanische Kharoshthi, die sich bisher der Entzifferung widersetzte, ist durch etwa 20 Textzeugnisse belegt. Sie sind, wie sich jetzt herausstellt, nicht in einer, sondern in zwei deutlich voneinander geschiedenen Varianten geschrieben. Dem Saarbrücker Spezialisten für indogermanische Sprachen Dr. Klaus T. Schmidt ist es gelungen, eine der beiden Varianten zu entziffern und die in den Sprachzeugnissen dokumentierte Sprache als mittelindisch, als ein Nordwestprakrit, zu bestimmen. Bei den Texten auf den Holztafeln handelt es sich zumeist um Dokumente merkantilen Inhalts oder Schriftstücke staatlicher Organe.

Entzifferungen verschollener Sprachen kommen nicht alle Tage vor. Die letzte, die weltweit Aufsehen erregte, war die des Mykenischen, die der Engländer Michael Ventris 1951/52 vorlegte. Die Karoshthi-Entzifferung ist bereits die zweite Entschlüsselung, mit der Schmidt sich befasst hat: Schon vor 16 Jahren hatte er die Erschließung des bis dahin aufgrund von Fehldeutungen noch weitgehend unverständlichen Tumsuqsakischen entscheidend vorangebracht. Für den einzigen längeren literarischen Text dieser mitteliranischen Sprache konnte Schmidt einen Wort für Wort entsprechenden Paralleltext in Westtocharisch ausfindig machen, einer indogermanischen Sprache, die in Ostturkistan bis ins elfte Jahrhundert gebräuchlich war.
Auf ähnliche Art ist ihm jetzt die Entzifferung der nordturkistanischen Karoshthi Typ B geglückt: Den Schlüssel hierzu lieferten einige Namen auf drei zweisprachigen Weinrechnungen (Vorderseite: Text in rechtsläufiger Brahmi-Schrift und westtocharischer Sprache; Rückseite: Text in unbekannter linksläufiger Karoshthi-Schrift und unbekannter Sprache). Schmidt nahm – zunächst versuchsweise – an, dass die Namen in beiden Versionen in gleicher oder doch sehr ähnlicher Lautung vorliegen. Und seine Vermutung erwies sich als richtig: Diese Namen lieferten die ersten sicheren Zeichen- und Lautentsprechungen.

Für das Tocharische, das jetzt die Entzifferung der Karoshthi Typ B ermöglichte, gilt Schmidt weltweit als die Koryphäe unter einer Hand voll Spezialisten. Außer ihm können nur fünf weitere Menschen als ausgewiesene Kenner dieser Sprache gelten (ein Franzose, ein Chinese, ein Japaner und zwei Deutsche). Die Entzifferung dieser Sprache, die 1908 mit der berühmt gewordenen Abhandlung „Tocharisch, die Sprache der Indoskythen. Vorläufige Bemerkungen über eine bisher unbekannte indogermanische Literatursprache“ eingeleitet wurde, war das Lebenswerk der beiden deutschen Indologen Emil Sieg und Wilhelm Siegling.
Die tocharischen Sprachreste lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: Zum einen in Textfragmente einer – einst sehr umfangreichen – religiösen buddhistischen Literatur und zum anderen in Sprachzeugnisse profanen Inhalts, darunter Dokumente der Klosterbuchführung und amtliche Dokumente staatlicher bzw. städtischer Organe, Geschäftsbriefe, Weinrechnungen, das Bruchstück eines Liebesgedichts, Wandinschriften und Schreiberzusätze in literarischen Texten. Die letzte Gruppe erlaubt einzigartige Einblicke in das Leben der Tocharer, in ihre wirtschaftliche und kulturelle Geschichte.
Die literarischen Texte des Tocharischen haben eine besondere religionswissenschaftliche Bedeutung für die Erforschung des zentralasiatischen Buddhismus: Neunzig Prozent der Texte sind Übersetzungen und Bearbeitungen buddhistischer Sanskritwerke, die Mönche zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert angefertigt haben. Dieses buddhistische Schrifttum des Tocharischen leistet – etwa durch Rückübersetzung der tocharischen Übersetzung – einen erheblichen Beitrag dazu, die buddhistische Sanskritliteratur weiter zu erschließen. So kann der interkulturelle Austausch von damals heute zur wechselseitigen Erhellung der Quellen genutzt werden. In vielen buddhistischen Sanskrittexten finden sich Hunderte von west- oder osttocharischen Glossen, die sehr klein und nahezu unlesbar unter das betreffende Wort gekritzelt sind. Diese Randbemerkungen zu entziffern, die, wenn überhaupt, bislang meist falsch gelesen und daher auch falsch verstanden wurden, ist eines von Schmidts besonderen Anliegen. Sie liefern dem Tocharologen zum einen zahlreiche neue Wörter und Wortbedeutungen, zum anderen können Indologen und Buddhologen mit ihrer Hilfe fragmentarische Texte und Textstellen ergänzen, lesen und inhaltlich bestimmen, was von unschätzbarem Wert sein kann. Diese Wissenschaftler ziehen das tocharische Schrifttum daher zunehmend neben tibetischen und chinesischen Überlieferungen als wichtige Quelle für den zentralasiatischen Buddhismus heran – ein Wandel, an dem die Forschungen des Saarbrücker Tocharologen entscheidenden Anteil haben.

Hintergrundinformation: Artikel „Auf der Spur verschollener Sprachen“ im Uni-Magazin campus: http://www.uni-saarland.de/presse/campus/2002/2/

Sie haben Fragen? Dann setzen Sie sich bitte in Verbindung mit Dr. Klaus T. Schmidt
Tel: 0681 – 81 58 23

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Claudia Brettar idw

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