Wenn medizinische Güter knapp sind


Die Leipziger Philosophin Weyma Lübbe arbeitet zum Forschungsschwerpunkt Allokationsethik. Im nächsten Jahr erscheint der Sammelband „Tödliche Entscheidung. Allokation vom Leben und Tod in Zwangslagen“

Ihre Studenten konfrontiert sie mit David: Der junge Mann ist schwer krank. Ein Medikament gibt es. Die Menge, die vorhanden ist, würde ihn heilen. Hundertprozentig. Wenn er die gesamte verfügbare Menge wirklich bekäme. Die Dosis würde auch genügen, um fünf andere kranke Personen zu heilen. Hundertprozentig. Wie David. Wer nun soll das Medikament bekommen? Wer darf leben, wer muss sterben? Die Studenten überlegen, ob die verfügbare Dosis nicht irgendwie für alle reichen könnte. Sie winden und wehren sich. Doch es steht unumstößlich fest, so wie beschrieben und nicht anders ist die Situation. Sie ringen um eine Lösung und plädieren letztlich dafür, das Los entscheiden zu lassen – wenigstens eine gleiche Chance wollen sie David gewähren. Das ist der Moment, in dem sie die Frage noch einmal bedenken sollen: Was, wenn es um 50, 500, … 50 Millionen andere Personen geht? Die Studenten verschieben ihre Antwort: Die 50, 500, … 50 Millionen anderen Personen sollen leben. David muss sterben. Die Effizienz hat sich durchgesetzt.
Die Entscheidungen stehen im Raum. Sie, die sie gefordert hat, wertet nicht, noch richtet sie. Sie sagt nicht: Die eine sei gut, die andere schlecht, die eine moralisch, die andere verwerflich. Sie weiß, mit David stecken ihre Studenten in einem alten Dilemma. Das Brett des Karneades – zwei Schiffbrüchige und eine rettende Planke; um zu überleben, stößt der eine den anderen hinunter – symbolisiert die prekäre Zuspitzung ebenso wie sie heute bei der Vergabe knapper Spenderorgane zutage tritt. Oder bei der Rekrutierung zum Fronteinsatz im Krieg. Oder bei der Vergabe von Dialyseplätzen in den 60er Jahren, als die Technologie neu war.

Die Frage, die quer durch alle Exempel führt: Wie gehen Menschen mit knappen Gütern um, sowohl in Situationen akuten als auch in solchen dauerhaften Mangels? Wie lassen sich Knappheiten verwalten, deren Verfügbarkeit die Entscheidung über Leben und Tod in sich trägt? Wenn es ans Leben geht, wie bei Karneades, ist dann jedes Mittel recht? Oder, um bei David zu bleiben: „Wenn die Gerechtigkeit verlangt, David eine Chance zu geben, warum verlangt dieselbe Gerechtigkeit nicht, David eine Chance zu geben, wenn auf der anderen Seite 50, 500 oder 50 Millionen Menschen stehen?“

Das „alte Dilemma“ beschreibt einen Konflikt, der seit jeher aus der Entscheidung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, zwischen der einen Chance auf die Rettung möglichst vieler Menschenleben und der gleichen Chance auf das Überleben für jeden Menschen erwächst – innerhalb der Philosophie stehen sich Utilitarismus und Egalitarismus gegenüber. Ein bekanntes Paar, in dessen Spannungsfeld das Thema „Verteilungsgerechtigkeit“ zur Diskussion herausfordert – eine Diskussion, die in jüngster Zeit unter dem Stichwort „Allokationsethik“ geführt wird (Allokation: Zuweisung von finanziellen Mitteln, Produktivkräften und Material). Der neue Fokus ist der Tatsache geschuldet, dass Probleme der Verteilungsgerechtigkeit zunehmend an ökonomische Kontexte gebunden sind. Schlagworte wie „Kostendruck“ und „Einsparungen“ verdeutlichen diesen Zusammenhang für das Gesundheitswesen – und damit für jenen Bereich der Gesellschaft, dem das Interesse von Frau Professor Weyma Lübbe im speziellen gilt. Die ethischen Konflikte, die aus dem Konflikt von Effizienz und Gerechtigkeit resultieren, zeigen sich in Fällen existentieller Zuspitzung „besonders scharf“.

Den Forschungsschwerpunkt Allokationsethik hat die Professorin mit ihrer Berufung ans Institut für Philosophie zum Sommersemester ’99 an der Universität Leipzig verankert. Das seither laufende Projekt „Allokationsethik mit besonderer Berücksichtigung von medizinischen Gütern und Umweltgütern“ vereint verschiedenste Disziplinen in einem Thema: Welche Normen regeln das Verhalten in Situationen, in denen unvermeidlich ist, dass von mehreren Personen mindestens eine sterben wird, während beeinflusst werden kann, wer oder auch wieviele das sein werden? Für 2003 arbeitet die Philosophin an einem Sammelband unter dem Titel „Tödliche Entscheidung. Allokation vom Leben und Tod in Zwangslagen“. Dessen Spektrum reicht von der Knappheit medizinischer Güter in der Katastrophen- und Alltagsmedizin über Notstandsregeln des Strafrechts bis hin zu historischen Beispielen aus der Seefahrt und deren sich möglicherweise globalisierenden Dimension, Stichwort „Rettungsboot Erde“. Mit den Einblicken in einschlägige, reale Praxisbereiche richtet sich der Schwerpunkt der Diskussion auf die konkrete Sittlichkeit, von der die Theoriedebatte ihren Ausgang nehmen muss.

Die Kontroverse um Effizienz und Gerechtigkeit, eine der essentiellen in der Moralphilosophie, „ist im Grundlagenbereich ungelöst“. Themen wie die Verteilung knapper medizinischer Güter in Katastrophen- und Alltagsmedizin verlangen und bedürfen eines Diskurses, der die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit wie auch in ihren Gruppen ernstnimmt und einbezieht. „Moral, die nicht aktuell eingebunden ist, setzt sich nicht durch.“ Also dringt Prof. Lübbe in „angewandte Kontexte“ ein und verzichtet auf modelltheoretische Erwägungen, die bereits von umstrittenen modelltheoretischen Prämissen ausgehen.

Inakzeptabel als Leitfaden für die Entscheidung über Leben und Tod sowohl in Ausnahme- als auch in dauerhaft angelegten Situationen von Knappheit – das sieht sie bereits jetzt – ist der Utilitarimsus, der allein im Nützlichen die Grundlage des sittlichen Verhalten sieht. Der Konsequenz liegen Studien zur medizinethischen Seite von Rationierung im Gesundheitswesen zugrunde. „Ich bin mir sicherer als früher: Der Utilitarismus ist keine moralisch haltbare Position.“ Trotzdem und deshalb bleibt „unser großes Interesse an Effizienz“ – siehe die Verschiebung der Antwort im „Fall David“ – zu ergründen. Genau so detailliert und konkret, dass die Scheidelinie, an der David lebt oder stirbt, erkennbar wird. Dass der Umgang mit Knappheitslagen, die Bedingungen für ihre soziale Akzeptanz oder Ablehnung sowie deren kulturhistorische Hintergründe erkennbar werden.

Bereits jetzt zeichnet sich ab: Das Anwenden der so genannten Triage-Regeln beim medizinischen Notstand in Folge einer Katastrophe – das heißt die Einteilung der Verunglückten in eine Gruppe von Leichtverletzten, die ohne ärztlichen Beistand eine sehr gute Überlebenschance hat, in eine zweite Gruppe von Schwerstverletzten, die dies nur mit sehr hohem Aufwand an Zeit und Ressourcen hätte, sowie in eine dritte Gruppe, die bei vertretbarem ärztlichem Aufwand gerettet werden kann – findet weitgehend gesellschaftliche Zustimmung. Würden diese Regeln jedoch auf wiederkehrende Entscheidungen der Alltagsmedizin angewendet, wäre eine ebenso weitgehende Ablehnung die Folge. In der Antwort auf die Frage, warum die Orientierung auf Effizienz, warum die Orientierung auf den Grundsatz „Rette so viele Menschenleben wie möglich“ in der Katastrophenmedizin weitgehend anerkannt ist, in der Alltagsmedizin hingegen nicht, sieht Prof. Weyma Lübbe einen ersten Ansatz, das bestehende Interesse an Effizienz zu ergründen: „Bei einer Katastrophe weiß niemand vorher, zu welcher der drei Patientengruppen er gehören würde. In diesem Falle lasse ich mich auf die Maximierungsregel ’möglichst viele Menschen retten’ ein – rational gesehen steigert sie meine eigene Überlebenschance. Auf diesen Konsens bauen die Triage-Regeln.“

Auf die alltägliche Knappheit im Gesundheitswesen lassen sie sich nicht übertragen. Die Zurückstellung „teurer“ Patienten – von Menschen, deren Rettung einen besonders hohen Aufwand erfordern würde, wie beispielsweise jene, die bei einer Transplantation mehrere Spenderorgane benötigen – würde in der Gesellschaft sofort skandalisiert werden. Aber als „objektive ethische Konflikte“ gehören derartige, so genannte Tragic Choices bereits zur Realität unserer Gesellschaft. Inzwischen, schätzt Prof. Lübbe ein, könne zumindest offen darüber geredet werden, dass in unserer Gesellschaft Knappheiten bestehen und dass ein Umgang mit ihnen gefunden werden muss. „Langfristig“, das ist der Leitfaden, dem Prof. Weyma Lübbe folgt, „sind eigene Interessen nicht zu verwirklichen, wenn auf den Nachbarn keine Rücksicht genommen wird.“ 

Weitere Informationen: Frau Prof. Dr. Weyma Lübbe
Telefon: 0341 97 35820
E-Mail: luebbe@uni-leipzig.de

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Daniela Weber idw

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