Ausgrabungen in Nubien erneut auf der Spur

Ein in Deutschland einmaliges Projekt: Das Ägyptologische Institut der Universität Leipzig dokumentiert jetzt die Grabungen von Aniba auf CD-ROM. Dabei werden als Quellen Originalfotos und die Tagebücher des früheren Institutsdirektors Georg Steindorff erschlossen, der 1912/14 und 1930/31 die Ausgrabungen in Aniba leitete.

Im ersten Augenblick sieht es so aus, als wälze Antje Spiekermann weder Tagebücher noch Protokolle, sondern den Stein des Sisyphos. Mühsam und aufreibend wirkt ihre Arbeit. Fotos prüfen, Texte übertragen, Tabellen bauen, Typen bestimmen – und das alles im stillen Untergeschoss des Ägyptologischen Instituts der Leipziger Universität. Die mit Büchern, Folianten und Archivalien, Tisch, Stuhl und Computer ausgefüllte Kammer lässt keinen Platz, auch nur einen kleinen Stein zu rollen. Irgendwie ist das alles ziemlich beschwerlich – aus Sicht des Betrachters. Die junge Ägyptologin sagt stattdessen: „Interessant.“ Seit fast zwei Jahren wälzt sie den Fundus zweier Grabungen um und um, die der einstige Institutschef Georg Steindorff in Nubien ausführte: 1912/14 sowie im Winter 1930/31 leitete er die Ausgrabungen in Aniba. Die essentiellen Erkenntnisse zum Grabungsplatz hat Professor Steindorff 1935 und ’37 in zwei Bänden „Aniba I“ und „Aniba II“ veröffentlicht. Daran will Antje Spiekermann nicht rütteln.
Aber das Material, das Steindorff hinterlassen hat, macht eine erneute Spurensuche lohnend und spannend. Es sind die in umfänglicher Zahl vorliegenden Originalfotos und Originaltagebücher Georg Steindorffs, auf die sich der Fokus seiner Nachfolger richtet. Beide Quellen sind bislang nicht publiziert. Ihre Darstellung in gedruckter Form und insbesondere ihre Verknüpfung mit den Aussagen der Steindorffschen „Aniba“-Werke würde das Fassungsvermögen eines jeden Buches überschreiten, zumal das Springen und Blättern zwischen Fundstellen und Karten, zwischen Friedhöfen und Lageskizzen, zwischen Fotos und Tagebüchern, zwischen Funden und Gräbern auch die Freude beim Lesen empfindlich stören würde. Auf diese Weise ließe sich also die geschlossene Abbildung der Aniba-Grabungen Georg Steindorffs schwerlich realisieren.
Was hilft aus der Sackgasse? Online gehen – die Potenzen des Internets, seiner Medien und seiner Sprachen nutzen. Konkret: Die Fotodokumentation und die schriftlichen Archivalien des Ägyptologischen Instituts und des zugehörigen Ägyptischen Museums auf eine CD-ROM packen und das Material auf diese Art erschließen, verwalten und publizieren. Das Projekt, von der VW-Stiftung gefördert, lief über zwei Jahre und endet jetzt im August 2002; die Demo-Version steht inzwischen im Netz. Weltweit ist es eines der ersten Projekte seiner Art, in der Bundesrepublik ist es bislang einmalig. Ähnliches gibt es derzeit in Utrecht/Niederlande, Oxford/Großbritannien sowie in Boston/USA. Während sich Leipzigs Ägyptologen für die Form der CD-ROM entschieden, haben die Bostoner Kollegen ihr „Giza Archives Project“ – mit ähnlichem Material, aber größeren Datenmengen – vollständig im Internet umgesetzt.
Es war Professor Georg Steindorff, der in seiner Leipziger Zeit dem Ägyptischen Museum der Universität den größten Zuwachs brachte und das bleibende Gepräge verlieh. Mit den Erträgen seiner Feldarbeit sowie Einzelstücken und Objekten, die durch Schenkung, Ankauf und Tausch nach Leipzig kamen, baute Steindorff vor dem Ersten Weltkrieg die größte ägyptische Universitätssammlung in Deutschland auf. Seine Grabungen in Ägypten erbrachten Leipzig bedeutende Funde. Die Steingefäße der frühdynastischen Zeit (um 2960 bis 2640 v. u. Z.) aus dem südlich von Kairo gelegene Abusir; die Königs- und Beamtenplastiken des Alten Reiches (um 2640 bis 2134 v. u. Z.) aus dem Pyramidenfeld von Giza sowie die Kleinkunst nubischer Provenienz aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr., ausgegraben im altägyptischen Kolonialgebiet südlich des heutigen Assuan, gehören zu den besten Originalen ihrer Art in den Museen Europas.
Die Heere der Pharaonen der 18. Dynastie waren um 1550 v. u. Z. nach Süden vorgestoßen; das Land Kusch wurde ägyptische Provinz, und in Aniba nahm der Stellvertreter des Vizekönigs von Kusch seinen Sitz. Als sich Professor Steindorff der einstigen Residenzstadt zuwandte, stieß er auf Friedhöfe und Siedlungen aus der so genannten A-Gruppe und der C-Gruppe, das heißt aus dem nubischen Altertum (3500 bis 2800 v. u. Z.) und dem nubischen Mittelalter (2300 bis 1600 v. u. Z.) sowie aus der Zeit zu Beginn des Neuen Reiches (1555 bis 1080 v. u. Z.). Mehrheitlich datieren die Funde seiner Grabungen aus der Zeit des Mittleren bis zu den Anfängen des Neues Reiches (2000 bis 1070 v. u. Z.).
Den Unterschied, der zwischen Steindorffs „Aniba“-Büchern und der CD-ROM liegt, erläutert Antje Spiekermann folgendermaßen: Die Grabstätten hat der Ägyptologe relativ knapp beschrieben, die CD-ROM dagegen speichert jedes einzelne von Steindorff aufgefundene Grab und verbindet dies mit einer kurzen Beschreibung, den (soweit vorhanden) zugehörigen Fotos und Tagebucheinträgen, einer Bibliographie und einem Lageplan, den Fundstücken und (bei besonderen Objekten) ihrer Typisierung. Für die Ritzmustergefäße, die ein herausragendes Indiz für die Keramik-Qualität der C-Gruppe sind, hat Steindorff die Typisierung sowie die Datierung entwickelt: Im Buch jedoch sind die Abbilder der Gefäße und die Tabelle durch dutzende Seiten getrennt; bei der CD-ROM genügt ein Mausklick auf das Foto des Gefäßes, um das Bild zu vergrößern und die Informationen zu Datierung, Größe, Fund- sowie Standort zu sehen. Die Daten sind also nicht nur direkter verknüpft, sondern auch detaillierter. „Jede Ausgangsseite hat eine unmerkliche Zahl von Links“, erklärt Antje Spiekermann.
Der rote Faden läuft von der Grabanlage über das Grab zum Fund. Blättern und suchen entfallen – die CD-ROM serviert sämtliche verfügbaren Informationen auf einmal. Wer sich allerdings im raschen Hin und Her zwischen Informationen und Fotos verzettelt, findet unter der Rubrik „Hilfsmittel“ eine Erläuterung beispielsweise zu Bestattungsarten und Gräbertypen oder eine Klassifizierung von Rohstoffen und Tongefäßen.
In der Summe erschließen die 6641 Datensätze der CD-ROM erstmals vollständig alle Materialien, Fotos, Objekte und „Mitbringsel“ der Steindorffschen Grabungen auf sieben Friedhöfen und in zwei Siedlungen von Aniba. Darunter befinden sich allein 1565 Fotos, die von den 3878 gläsernen Fotoplatten der Grabungszeit erhalten blieben. Die Dokumentation von Antje Spiekermann bietet aber noch mehr: Sie hat das heute verfügbare Material komplett mit dem Material abgeglichen, das bisher in Publikationen eingeflossen sowie im Ägyptischen Museum Leipzig nach den Verlusten des 2. Weltkriegs noch deponiert ist. Dabei ist zu beachten, dass Steindorffs Funde aus dem Winter 1930/31 in Kairo verblieben – sie durften nicht mehr ausgeführt werden; heute lagern sie wahrscheinlich im Magazin des dortigen Ägyptischen Museums.
Ihre ursprüngliche Absicht, auch die Funde der Giza-Grabung interaktiv zusammenzustellen, musste Antje Spiekermann aufgeben. „Die 961 Gräber von Aniba haben die zwei Jahre komplett aufgebraucht“. Doch immerhin, nach dem „Versuchsfeld Aniba“ ist sie sich sicher: „Ich weiß jetzt, dass man auch Giza in dieser Form bewältigen kann.“
Sofern der neue Antrag zur Erschließung, Verwaltung und Publikation der Funde von Giza bei der VW-Stiftung auf Zustimmung stößt, bedeutet das: Die Darstellung wird diffiziler, weil Objekte aus einem Grab heute über bis zu vier Museen und Institutionen verstreut sind. Wenn’s mit der zweiten CD-ROM klappt, würde Antje Spiekermann den Pfaden von Professor Steindorff folgen – virtuell gesehen; und in der „verkehrten“ Reihenfolge. Der einstige Institutschef hatte zuerst in Giza gegraben, ehe er seine Grabungslizenz gegen eine für Aniba tauschte und damit vom Alten Reich ins Mittlere Reich, von den Gräbern der Oberschicht zur nubischen Kleinkunst wechselte. Die Aufgabe bestünde nun darin, ausgehend von den Fotos, Tage- und Fundbüchern, die in Leipzig vorliegen, das Material zu komplettieren. Noch eine Sisyphusarbeit? Mitnichten! Eher eine erneute „Geheimnis-Aus-Krämerei“ voller Akribie, Disziplin und Finesse, an deren Ende der Weg schnurstracks zu den letzten Geheimnissen der Expeditionen des Georg Steindorff führt – mühelos einfach. Für den Nutzer.
Daniela Weber

Weitere Informationen:
Antje Spiekermann
Telefon: 0341 97 37008
E-Mail: spiekerm@uni-leipzig.de

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