Ostdeutsche Jugend als "Opfer" der Wende

Dr. Karina Weichold ermittelte, dass die Wende zu einem erschreckenden Anwachsen der Zahl der Problemtrinker unter den ostdeutschen Jugendlichen geführt hat. (Foto: FSU-Fotozentrum/Günther)

Entwicklungspsychologin der Universität Jena untersuchte Alkoholkonsum bei Jugendlichen

Das Konsumieren von Alkohol ist für Jugendliche ein natürlicher Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden. „Alkohol ist eine kulturell akzeptierte Droge, wenn in einem entsprechenden Rahmen getrunken wird, z. B. bei Diskobesuchen“, beschreibt die Jenaer Psychologin Karina Weichold den Alkohol. „Er kann sogar positive Funktionen bei diesem Entwicklungsschritt übernehmen, beispielsweise indem Angebote von Getränken die Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht erleichtern.“ Dies gilt üblicherweise für 90% der Jugendlichen. Die verbleibende kleine Gruppe gehört im Umgang mit Alkohol zu den Problemtrinkern. „Für diese Jugendlichen ist das Trinken nur ein Aspekt von vielfältigen Anpassungsproblemen, die schon in der Kindheit ihre Wurzeln haben“, weiß die Psychologin von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Während diese Problemgruppe jedoch im Durchschnitt nur rund zehn Prozent eines Altersjahrgangs ausmacht, hat die politische Wende zur Entstehung einer zusätzlichen Risikogruppe für problematischen Konsum unter den ostdeutschen Jugendlichen geführt. Diese Risikogruppe macht fast die Hälfte der Jugendlichen aus, die bis zum Jugendalter unauffällig waren, wie Karina Weichold in ihrer gerade abgeschlossenen Doktorarbeit ausgeführt hat.

„Es ist eine exzellente Arbeit“, lobt Doktorvater Prof. Dr. Rainer K. Silbereisen die Dissertation der 28-jährigen gebürtigen Weimarerin. Weichold konnte den Entwicklungsprozess zum Alkoholkonsum ihrer Altergenossen aufgrund eines Glücksfalls untersuchen. Sie durfte auf die Daten einer Studie zugreifen, die 1986 vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig begonnen wurde und bis 1995 lief. „Es ist eine der wenigen Studien, die über die Wende fortgeführt wurden, weil sie vom Deutschen Jugendinstitut in München übernommen wurde“, freut sich Weichold.

Im Mittelpunkt ihrer Forschung stand die Frage: Trinken die unterschiedlichen Jugendgruppen aus verschiedenen Gründen? Untersucht wurden 434 Personen, die 1989 etwa 13-14 Jahre alt waren. Weichold ermittelte darunter 12% der Jugendlichen, die in der Kindheit schon verhaltensauffällig waren. Ursachen für deren problematischen Alkoholkonsum im Jugendalter, der nur ein Aspekt von vielfältigen Anpassungsproblemen ist, sind Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste. „Diese Personen erreichen ihre eigenen Ziele nicht. Sie glauben, dass sie nichts schaffen, und kompensieren diesen geringen Selbstwert u. a. durch Alkoholkonsum“, weiß die Jenaer Psychologin. „Allerdings hatte der soziale Wandel auf die Gründe zum Trinken in dieser kleinen Gruppe keinen Effekt“, zeigte Weichold. Für diese außerhalb jeglicher Cliquen stehenden Individuen hat die Wende sogar einige positive Effekte mit sich gebracht. „Weil nach der Wiedervereinigung neue Freizeitorte entstanden sind, fanden sie dort neue soziale Kontakte, die manche gezogen haben“, vermutet Weichold – und möchte dieser Frage in einer zukünftigen Studie nachgehen.

Als zweite Gruppe ermittelte die Entwicklungspsychologin 231 „Spaßtrinker“ (52% der Stichprobe). Bei dieser großen Gruppe ist der problematische Alkoholkonsum auf das Jugendalter beschränkt und wächst sich im Prozess des Erwachsenwerdens aus. Allerdings gilt dies nur für wohlhabende Familien, die ihren Kindern eine Nutzung der neuen Freizeitangebote auch ermöglichen konnten. „Hier hat die ökonomische Situation eine erhebliche Rolle gespielt“, analysiert Weichold.

Das erschreckendste Resultat ihrer Arbeit fand die Entwicklungspsychologin in der dritten Gruppe. Ungefähr ein Drittel der Jugendlichen sind zu „Problemtrinkern“ geworden, weil ihnen das Geld fehlte, um am neuen Freizeitangebot teilzuhaben und so als vollwertige Mitglieder in ihrer Umwelt akzeptiert zu werden. Diese wandten sich Cliquen zu, die selber Problemverhalten zeigten. Dort wurde gemeinsam getrunken, um Probleme – etwa in der Schule – zu . „Diese Gruppe wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft eine Problemgruppe sein“, sagt Karina Weichold voraus. Ihre Prognose leitet sie aus bekannten Befunden der Delinquenzforschung ab. Denn sie weiß: „Andauernder Kontakt zu Cliquen und Schulprobleme führen zu Anpassungsproblemen bis ins Erwachsenenalter.“

Allerdings warnt sie vor voreiligen Schlüssen: „Nicht jeder Problemtrinker wird zum Alkoholiker oder gar zum Kriminellen.“ Das Potenzial unter den ostdeutschen Jugendlichen, deren Familien finanzielle Einbußen oder Arbeitslosigkeit erlebten, ist allerdings wesentlich höher als unter sonstigen Vergleichsgruppen. „Deutlich wurde in meiner Untersuchung, dass hier der soziale Wandel negative Effekte hatte“, bekräftigt die Psychologin von der Uni Jena.

Die Spaßtrinker entwickeln sich meistens ohne Hilfsangebote normal weiter. Nach Weicholds Auffassung muss aber für alle Problemtrinker ein differenziertes Arsenal an Präventionsmethoden bereitgestellt werden. Denen, die bereits als Kinder auffällig sind, sollte ein Verhaltenstraining im Kindergarten und Beratung für die Eltern angeboten werden, um prosoziales Verhalten zu erreichen. Generell benötigen Jugendliche mehr Informationen, kostengünstige Freizeitangebote (z. B. von staatlich finanzierten Freizeittreffs) und Trainings, die helfen, Gruppendruck zu widerstehen und selbst verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen – insbesondere dann, wenn sie aus finanziell belasteten Familien stammen. „Es müssen mehr Programme zur Vermittlung allgemeiner Lebenskompetenzen etabliert werden, verbunden mit der Eröffnung von realistischen Chancen für die persönliche Entwicklung von Jugendlichen“, fordert Weichold. Solche Programme, wie sie etwa am Institut für Psychologie der Jenaer Universität entwickelt werden, helfen auch dabei, dass sich das Klima zwischen Lehrern und Schülern verbessert – und das ist nicht erst seit dem Erfurter Attentat von großer Bedeutung.

Kontakt:
Dr. Karina Weichold
Institut für Psychologie der Universität Jena
Am Steiger 3, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945221
Fax: 03641 / 945202
E-Mail: swe@uni-jena.de

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Axel Burchardt idw

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