Echt patent

Morphologischer Kasten

Angesichts einer zunehmenden Anzahl von technischen Schutzrechten (Patente, Gebrauchsmuster) wird die Entwicklung neuer Produktideen für Unternehmen immer schwieriger. Aus diesem Grund hat die Fraunhofer-Technologie-Entwicklungsgruppe TEG in Stuttgart ein Leistungspaket entwickelt, mit dem hemmende Patente von Wettbewerbern umgangen und die verbleibenden Freiräume optimal genutzt werden können.

Höchst erfreulich ist, dass findige Köpfe im Land nicht nur in den großen Forschungslabors der Industrie sitzen, sondern auch im Gewerbegebiet um die Ecke. Allerdings musste sich schon so manches kleine oder mittelständische Unternehmen (KMU) in Sachen Erfindertum auf einem Nebenschauplatz geschlagen geben. Und zwar immer dann, wenn die Tüftler bei der Umsetzung eines innovativen Produkts oder eines Verfahrens auf bereits bestehende Patente stoßen, welche die gesamte Entwicklung blockieren. Die einzige Lösung ist in solchen Fällen nur der Erwerb einer teuren Lizenz. Doch es geht auch anders, wie Dr.-Ing. René Niethammer, Leiter Innovationsmanagement bei der Fraunhofer TEG, erklärt: „Wenn sich ein Unternehmen bei der Entwicklung eines neuen Produkts teure Lizenzgebühren sparen will, kann es das bestehende Patent durch eine verbesserte Lösung umgehen.“
Allerdings verfügen viele Unternehmen, darunter vor allem KMU, häufig nicht über das notwendige Potenzial für eine solche Weiterentwicklung. Denn die kostet nicht nur Zeit und Geld, sondern erfordert auch Experten-Wissen etwa im Bereich Technologie und Patentrecht. Aus diesem Grund bietet die Fraunhofer TEG als industrienahe Forschungs- und Entwicklungseinrichtung in Zusammenarbeit mit erfahrenen Juristen die Durchführung von Patentumgehungen an. Ziel der Stuttgarter Ingenieure ist dabei, keine bloße Imitation auf den Markt zu bringen, „sondern Technik und Know-how des bestehenden Patents zu nutzen, zu optimieren und so ein verbessertes Produkt zu entwickeln“, fährt Dr. Niethammer fort [Abb. 1]. Und dazu bedienen sich die Stuttgarter Ingenieure einer speziellen Ideenfindungsmethodik – des morphologischen Umkehrprozesses.

Die morphologische Analyse

Der erste Wissenschaftler, der sich mit der so genannten morphologischen Analyse beschäftigte, war Professor Fritz Zwicky von der Technischen Universität in Kalifornien. In seinem 1966 veröffentlichten Buch „Entdecken, Erfinden, Forschen im Morphologischen Weltbild“ stellt er diese Methode erstmals vor. Die einfachste Form der Analyse ist das zweiachsige Ideen-Modell, auch morphologischer Kasten genannt. Bei dieser Vorgehensweise werden die wichtigsten Parameter eines Produktes oder einer Leistung auf der einen Achse und die verschiedenen Varianten dieser Parameter auf der anderen Achse festgehalten. Aus der Kombination jeder Variablen einer Kolonne mit jeder anderen ergibt sich schließlich eine Vielzahl unterschiedlicher Gesamtlösungen [Abb. 2].
Dieses Vorgehen macht sich die Fraunhofer TEG bei einer Patentumgehung in umgekehrter Form zunutze. Dafür werden ein oder mehrere bereits bestehende Patente in ihre jeweiligen Parameter zerlegt und in einen morphologischen Kasten eingetragen. Anschließend werden die Eigenschaften bzw. Ausprägungen dieser Parameter herangezogen. „Ein großer Vorteil dieser Methode ist, dass wir vorhandene Schwachstellen des bestehenden Patents herausfiltern und bei der Generierung einer neuen Lösung eliminieren können“, betont Niethammer.

Methodische Vorgehensweise

Bevor es jedoch an die morphologische Aufbereitung geht, werden in einem Workshop gemeinsam mit den Mitarbeitern des auftraggebenden Unternehmens, die wichtige Know-how-Träger sind, die Zielvorstellungen und Anforderungen an ein neues Produkt festgelegt und die konkrete Problemstellung definiert. Anschließend wird das Gesamtproblem in mehrere Teilprobleme zerlegt. Gleichzeitig recherchieren die Experten in verschiedenen Informationsquellen, die zur Lösung des Problems beitragen können. Dazu zählen neben bestehenden Patenten auch entsprechende Fachliteratur, Produkte oder Technologien von Wettbewerbern sowie Analogiebetrachtungen. Im nächsten Schritt werden die bekannten Lösungen auf Schwachstellen untersucht, um diese später in der Entwicklung zu eliminieren.
„Aus den extrahierten Anforderungen erstellen wir dann gemeinsam mit den Mitarbeitern eine Art Idealvorstellung des neuen Produkts“, fährt der Fraunhofer-Experte fort. Diese wird ggf. noch einmal anhand verschiedener Analyse-Methoden wie QFD, Lead-User-Befragung oder Wettbewerbsvergleich auf die aktuellen Ansprüche der Marktteilnehmer überprüft und modifiziert. Im Ergebnis erhalten die TEG-Fachleute bzw. der Kunde eine konkrete Aufgabenstellung, die bezüglich des Entwicklungsprodukts und seiner Technologie folgende Aspekte beinhaltet:

  • den Zweck, den die beabsichtigte Lösung erfüllen muss
  • die Eigenschaften, die sie aufweisen muss
  • die Eigenschaften, die sie nicht aufweisen darf

Ist die Aufgabenstellung derart konkretisiert, beginnt im Rahmen eines weiteren Workshops die Ideengenerierung mit Hilfe der morphologischen Analyse. Ziel ist es, gemeinsam mit den Firmen-Mitarbeitern eine Umgehungslösung zu finden, die der vorher festgelegten Aufgabenstellung entspricht und die natürlich technisch realisierbar ist. Jeder Teilnehmer hat dabei Gelegenheit, eigene Ideen vorzutragen und zu diskutieren. „Die Workshops werden in der Regel in Räumen der Fraunhofer TEG abgehalten, um die Mitarbeiter aus ihrer gewohnten Umgebung herauszuholen“, erklärt Dr. Levermann, Abteilungsleiter bei der Fraunhofer TEG. Dadurch erhöht sich oftmals das Kreativitätspotenzial der Teilnehmer. „Und natürlich bringen wir in vielen Fällen auch selbst Ideen ein“, so Dr.-Ing. Niethammer. In erster Linie sehen die TEG-Ingenieure ihre Aufgabe jedoch in der Moderation des Projektes unter Anwendung der entsprechenden Methodik. René Niethammer: „Wir leiten die Wissensträger im Unternehmen an, selbst Ideen und Lösungen zu entwickeln. Schließlich gehen sie täglich mit den Geräten um und kennen die speziellen Anforderungen, die der Markt verlangt.“ 

Freiräume für Ideen werden enger

Dass die Vorgehensweise der Fraunhofer TEG vielversprechend ist, zeigen positive Resultate in der Praxis der vergangenen Monate – wie das Projekt bei der Firma MTS MessTechnik Schwartz GmbH in Düsseldorf. MTS produziert Sensoren für die Prozess- und Chemie-Industrie und steht darüber hinaus mit Konzepten, Ideen und Lösungen im Rahmen der Prozessinformationstechnologie zur Seite. Das Unternehmen wurde 1989 gegründet und beschäftigt heute 37 Mitarbeiter. Zur Entwicklung eines speziellen Partikel-Messgerätes suchte die Firma den Rat der Fraunhofer TEG. „Wir hatten bereits selbst einige Ideen für ein neues Partikel-Messgerät entwickelt“, berichtet Friedel Herbert Schwartz, Geschäftsführer der MTS GmbH. Allerdings stieß man bei der Patent-Recherche auf geschützte Erfindungen in den USA und Japan, die den Rahmen für die Neu-Entwicklung erheblich einengten. „Das Problem ist, dass es inzwischen eine Unmenge an Patenten gibt“, so Schwartz, „und deshalb der Freiraum für eigene Ideen ständig kleiner wird.“ Schließlich wandte sich das Unternehmen an die Fraunhofer Experten, um sich bei der Umsetzung eines patentierfähigen Produktes beraten zu lassen.

Die Stuttgarter Ingenieure veranstalteten zunächst einen Workshop, um gemeinsam mit den Mitarbeitern von MTS aus den Bereichen Geschäftsführung, Entwicklung, Anwendungstechnik und Marketing die Problemstellung genau zu definieren. „Zudem wurden die bisherigen Entwürfe und Planungen mit den bereits bestehenden Patenten verglichen und mit Hilfe der morphologischen Umkehranalyse weitere Vorschläge erarbeitet“, so Dr. Andreas Levermann. Diese wurden sodann in der Entwicklungsabteilung bei MTS auf ihre technische Machbarkeit überprüft und anschließend in einem weiteren Workshop mit der Fraunhofer TEG einer so genannten Patentbewertung unterzogen.

Da es sich dabei um einen längeren Prozess handelt, sollte die Patentbewertung bzw. die -anmeldung so bald wie möglich erfolgen, um so den Wettbewerbsvorteil frühzeitig abzusichern. „Eine Beurteilung darüber, ob ein Produkt schutzwürdig ist oder nicht, kann allerdings nur ein Patentanwalt durchführen“, weist Dr.-Ing. René Niethammer hin. Dr. Niethammer: „Deshalb arbeiten wir mittlerweile mit mehreren Patentanwälten aus diesem Bereich zusammen.“ Ziel ist es, dem auftraggebenden Unternehmen die gesamte Leistung von der Ideenfindung über die Entwicklung bis hin zur Patentbewertung aus einer Hand anbieten zu können. Zusätzlich unterstützen die Patentanwälte den Kunden auch bei weiteren rechtlichen Anforderungen wie etwa der Anmeldung des neuen Patents.

MTS konnte auf diese Weise ein Gerät realisieren, das nicht nur patentierfähig ist – inzwischen wurde das Patent für die USA und Großbritannien erteilt – sondern dem Unternehmen durch neuartige Mess-Sensor-Systeme auch erhebliche Wettbewerbsvorteile verspricht. „Entscheidend war für uns vor allem die externe Sicht der Fraunhofer-Ingenieure bei der Ideen-Entwicklung“, meint Geschäftsführer Schwartz. „Sie haben uns die technischen Brücken gebaut, um unsere eigenen Vorstellungen in ein schützenswertes Produkt umzusetzen.“

Nutzen für das Unternehmen

Die Entwicklung und Nutzung neuer Produkte oder Technologien ist für viele Unternehmen (überlebens)wichtig, vor allem angesichts der fortschreitenden Globalisierung und des damit wachsenden Konkurrenzdrucks. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten, eigene Ideen patentfähig umzusetzen, durch die steigende Anzahl der bereits bestehenden Patente mehr und mehr eingeschränkt. Die von der Fraunhofer-Technologie-Entwicklungsgruppe durchgeführte Patentumgehung bietet einen Weg, die noch verbleibenden Spielräume im Bereich Schutzrechte zu nutzen – und weist darüber hinaus noch eine Reihe weiterer Vorteile auf:

  • Entwicklungskosten sparen durch Nutzen bestehender Technologien
  • Alternative zu teurem Lizenz-Erwerb, vor allem, wenn ein hemmendes Patent erst im späten Stadium zeit- und kostenintensiver Entwicklungen entdeckt wird
  • Zugriff auf das umfassende Experten-Wissen der Fraunhofer TEG z.B. im Bereich Recherche
  • Juristische Unterstützung durch Zusammenarbeit mit erfahrenen Patentanwälten nach dem Prinzip „Alles aus einer Hand“
  • Erlangung eines Wettbewerbsvorteils bzw. Marktvorsprungs durch Entwicklung optimierter Produkte oder Verfahren

Darüber hinaus lässt sich die Patentumgehung aber auch in einem anderen Sinne wirkungsvoll einsetzen – indem man sie zum Teil seiner Patentstrategie macht und neben der eigentlichen Neu-Entwicklung gleich auch verschiedenen Umgehungsvariationen kreiert und mitschützen lässt. „Insbesondere bei einem Produkt oder einem technischen Verfahren, das strategisch wichtig ist für ein Unternehmen, sollte man diese Vorgehensweise auf jeden Fall in Betracht ziehen“, erklären die Fraunhofer Experten. Denn damit kann sich jede Firma früh vor Nachahmungen absichern – und das liegt sicher ganz im Sinne des Erfinders.

Marion Hiltl

Ansprechpartner Fraunhofer TEG:
Dr.-Ing. René Niethammer
Leiter Innovationsmanagement
Nobelstraße 12
70569 Stuttgart
Tel.: +49 (0) 711/9 70-3529
Fax: +49 (0) 711/9 70-3993
E-Mail: rene.niethammer@teg.fraunhofer.de

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Dipl.-Wirt.-Ing. (FH) Axel Storz idw

Weitere Informationen:

http://www.teg.fraunhofer.de/

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