Wenn ein Gedanke genügt: Gehirn steuert Maschine

Die BCI-gesteuerte Schreibmaschine ermöglicht die Eingabe und Korrektur von Texten, auch wenn ein Patient sogar seine Augenbewegungen nicht mehr kontrollieren kann (etwa bei fortgeschrittener ALS). (c) TU Berlin/Pressestelle/Dahl

BCIs „lesen“ die elektrische Hirnaktivität der Patienten, die schon beim reinen Gedanken an eine Bewegung entsteht, und übersetzen sie in technische Steuersignale für Geräte und Maschinen. „Die innovative Technik ermöglicht uns neue Erkenntnisse über die Funktion des Gehirns und neue Therapieansätze, die den Patienten ein Stück Lebensqualität zurückgeben“, so Professor Ralf Gold, erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Noch ist die Anwendung der BCIs allerdings auf kontrollierte Studien beschränkt – und sie werfen neue ethische Fragen auf.

Gehirnaktivität wie auf einer Landkarte erfassen

Die Hirnrinde eines Menschen enthält Milliarden elektrisch aktiver Nervenzellen, deren Signale bis zur Kopfhaut weitergeleitet werden. Die Spannungsschwankungen werden von BCIs mittels Elektroden auf der Kopfhaut als Elektroenzephalogramm (EEG) registriert. So werden Gedanken der Patienten, die sich in elektrischen Impulsen ausdrücken – etwa die Vorstellung, einen Arm zu bewegen –, in einen Befehl für die Gerätesteuerung übersetzt; selbst über das Internet ist solch eine Kommunikation möglich.

„Wir können die Gehirnaktivität wie auf einer Landkarte umso genauer erfassen, je mehr Elektroden wir auf der Kopfhaut anbringen“, erklärt Curio, der die Technik im interdisziplinären Forschungsprojekt „Berlin Brain-Computer Interface (BBCI)“ gemeinsam mit Professor Klaus-Robert Müller (Fachgebiet Maschinelles Lernen) und Professor Benjamin Blankertz (Fachgebiet Neurotechnologie) von der TU Berlin entwickelt.

Um allein mit Gedanken eine Maschine steuern zu können, steht am Anfang eine Trainingsphase, allerdings nicht für den Patienten: „Der Computer lernt, nicht der Mensch“, sagt Curio. Eine Person muss sich dabei auf Kommando bestimmte Dinge vorstellen, zum Beispiel die linke oder die rechte Hand zu bewegen. Der Lernalgorithmus des Computers bekommt dabei die Zeitpunkte der Kommandos für die linke und die rechte Handbewegung mitgeteilt. Schon nach 60 bis 80 Durchläufen kann er jene Gehirnsignale erkennen, die für bestimmte Tätigkeiten typisch sind.

Roboterarme und virtuelle Schreibmaschinen – Hoffnung für schwerstgelähmte Patienten

Brain-Computer Interfaces bieten vielfältige Anwendungsmöglichkeiten und große Hoffnungen für schwerstgelähmte Patienten. Etwa für Menschen mit Locked-in-Syndrom – einer neurologischen Erkrankung, die als Folge eines Hirnstamminfarktes, Amyotropher Lateralsklerose oder Unfällen dazu führt, dass die Patienten bei vollem Bewusstsein vollständig gelähmt sind und lediglich die Augenlider bewegen können. Unvorstellbar, was es für die Lebensqualität solcher Patienten bedeutet, wenn sie zum Beispiel eine virtuelle Schreibmaschine allein mit ihren Gedanken steuern können. „Sie melden sich so kommunikativ wieder in der Welt zurück“, sagt Curio.

BCIs sind aber auch für Neuroprothesen einsetzbar, etwa um einen Roboterarm mittels Gedankenkraft zu steuern. „Mit einem Exoskelett, das voller Elektronik steckt und einem Raumanzug ähnelt, könnten Gelähmte es sogar schaffen, sich wieder auf zwei Beinen fortzubewegen“, erklärt Curio. Bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien führte ein Querschnittsgelähmter im Exoskelett symbolisch den Anstoß aus. Auch in der Neurorehabilitation von Schlaganfallpatienten spielen BCIs eine Rolle. Durch Ableitung der motorischen Gehirnsignale und Neurofeedback lässt sich aufdecken, welche Signale für die Bewegungssteuerung zuständig sind. Patienten könnten so nach und nach lernen, ihr Gehirn „umzuprogrammieren“.

Elektroden auf der Kopfhaut oder als Gehirnimplantat

So vielversprechend die Entwicklung auch ist: „BCI-Systeme gibt es nicht auf Krankenschein, sie werden derzeit nur im Rahmen kontrollierter Studien getestet. Es wird noch etliche Jahre dauern, bis wir ein System haben, das die Patienten im Alltag verwenden können“, prognostiziert Curio. Zum Beispiel sind die Elektroden auf der Kopfhaut, für deren Leitfähigkeit größere Mengen Gel notwendig sind, bisher alles andere als alltagstauglich. Geforscht wird daher an Elektroden, die nur mit Metallplättchen arbeiten, oder an nahezu unsichtbaren Miniaturelektroden, die mit einem winzigen Tropfen Gel über Adhäsion an der Kopfhaut haften. Neben diesen risikofreien nichtinvasiven Elektroden arbeiten Wissenschaftler auch mit invasiven Elektroden, die sie unter der Schädeldecke auf der Hirnhaut oder direkt in der Hirnrinde anbringen. Der Vorteil der implantierten Elektroden ist, dass sich zum Beispiel Armprothesen viel präziser steuern lassen. „Dafür muss allerdings operiert werden, was – wie jeder Eingriff – Risiken mit sich bringt“, betont Curio.

Mehr Sicherheit im Job dank Mensch-Computer-Schnittstellen?

BCIs eignen sich auch für Gesunde. „Allerdings nur in der nichtinvasiven Variante“, so Curio. Die Neuroergonomie untersucht zum Beispiel die Gehirnaktivität an sicherheitskritischen Arbeitsplätzen, die besonders hohe Konzentration erfordern. In einer Studie zeichneten Forscher Gehirnsignale von Personen auf, die an einer simulierten Gepäckkontrolle wie am Flughafen arbeiteten. „Wir konnten anhand der Gehirnsignale erkennen, wann sie müde wurden und Fehler machten“, sagt Curio. Einige Unternehmen haben die Nutzung der EEG-Daten bereits für sich entdeckt: Sogenannte EEG-Stirnbänder sollen es ermöglichen, sich durch Rückmeldung des eigenen Hirnstrommusters, ähnlich dem klassischen Neurofeedback, besser zu konzentrieren. Die Hersteller können sich langfristig auch den Einsatz der Technik bei PC-Spielen oder als Fernbedienung vorstellen. „Mit der medizinischen Forschung hat diese spielerische Anwendung zwar nichts zu tun“, sagt Curio. Trotzdem: „Die Erweiterung der BCIs auf diesen Massenmarkt würde den medizinischen Anwendungen helfen, weil die Preise fallen.“

Menschen, Medizin, Machbarkeit – dürfen wir alles, was wir können?

Zwar sind Gehirn-Computer-Schnittstellen ein vielversprechendes und hochinnovatives Forschungsfeld, das neue Erkenntnisse über die Funktion des Gehirns ebenso ermöglicht wie die Entwicklung neuer Therapien. Doch zur Anwendung im Alltag sind noch einige technische und auch ethische Herausforderungen zu meistern – von den erforderlichen Humanexperimenten und einer Nutzen-Risiko-Analyse der Intervention ins menschliche Gehirn bis hin zu neuen ethischen Fragen der technischen Manipulation des Menschen. „Bisher war die Grenze zwischen Mensch und Technik scheinbar klar zu ziehen. Aber wie gehen wir damit um, wenn menschliche Entscheidungsfindung und Technik ineinandergreifen und diese Grenze zunehmend verschwimmt?“, gibt Curio zu bedenken.

• Haufe S, Kim J, Kim I, Sonnleitner A, Schrauf M, Curio G, Blankertz B, Electrophysiology-based detection of emergency braking intention in real-world driving. J Neural Eng, 11(5): 056011, 2014
• Blankertz B, Tangermann M, Vidaurre C, Fazli S, Sannelli C, Haufe S, Maeder C, Ramsey LE, Sturm I, Curio G, Müller KR, The Berlin Brain-Computer Interface: Non-Medical Uses of BCI Technology. Front Neuroscience, 4: 198, 2010
• Nikulin VV, Kegeles J, Curio G, Miniaturized electroencephalographic scalp electrode for optimal wearing comfort. Clin Neurophysiol, 121:1007-1014, 2010
• Conradi J, Blankertz B, Tangermann M, Kunzmann V, Curio G, Brain-Computer Interfacing in Tetraplegic Patients with High Spinal Cord Injury. Int J Bioelectromagnetism, 11(2): 65-68, 2009
• Blankertz B, Dornhege G, Krauledat M, Müller KR, Curio G, The non-invasive Berlin Brain-Computer Interface: Fast Acquisition of Effective Performance in Untrained Subjects. Neuroimage, 37(2): 539-550, 2007

Fachlicher Kontakt bei Rückfragen

Prof. Dr. Gabriel Curio
Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie Charité Berlin
Tel.: +49 (0) 30 8445-2276
E-Mail: gabriel.curio@charite.de

Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
Sandra Wilcken
c/o albertZWEI media GmbH
Englmannstr. 2
81673 München
E-Mail: presse@dgn.org
Tel: +49 (0) 89 46148622
Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen

Einladung für die Medien:
Menschen, Medizin, Machbarkeit – Forschung am Gehirn 2.0
Öffentliche Diskussionsveranstaltung zur Zukunft der Neuromedizin am 22.9. in Düsseldorf

Brain-Computer Interfaces und andere bemerkenswerten Fortschritte der modernen Neuromedizin sind am 22. September 2015 von 19 bis 21 Uhr Thema der öffentlichen Veranstaltung „Menschen, Medizin, Machbarkeit – Forschung am Gehirn 2.0“ im Max-Haus Düsseldorf. Führende Neurologen und Neurowissenschaftler aus Düsseldorf, Bochum, Bonn, Köln und Berlin, darunter auch Professor Gabriel Curio, werden die Möglichkeiten und Grenzen sowie ethische Fragen mit dem Publikum diskutieren. Die Veranstaltung richtet sich an interessierte Laien und neugierige Professionals. Der Eintritt ist frei, eine Voranmeldung ist nicht notwendig. Die Zahl der Plätze ist allerdings begrenzt. Platzreservierungen sind möglich per E-Mail an presse@dgn.org. Die Veranstaltung bildet den Auftakt zum 88. DGN-Kongress, der mit rund 6.000 Experten für Gehirn und Nerven vom 23. bis 26. September in Düsseldorf stattfindet. Weitere Informationen: http://www.dgnkongress.org

Mensch im Blick – Gehirn im Fokus
88. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 23. bis 26. September in Düsseldorf
Rund 6000 Experten für Gehirn und Nerven tagen im September in Düsseldorf. Von Demenz bis Epilepsie, von Schlaganfall bis Multiple Sklerose – der DGN-Kongress ist das zentrale Wissenschafts-, Fortbildungs- und Diskussionsforum der neurologischen Medizin in Deutschland. Journalisten bietet er Gelegenheit zur Recherche sowie für persönliche Gespräche mit den führenden Köpfen der deutschen und internationalen Neuromedizin. Die DGN bietet ein gut ausgestattetes Pressezentrum. Die Pressekonferenzen finden statt am Mittwoch, 23. September, 10:00 bis 11:00 Uhr, sowie Freitag, 25. September, 11:30 bis 12:30 Uhr (terminliche Änderungen vorbehalten). Akkreditierung und weitere Informationen: www.dgnkongress.org/presse

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
sieht sich als neurologische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren rund 8000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist die Bundeshauptstadt Berlin.
http://www.dgn.org

1. Vorsitzender: Prof. Dr. Ralf Gold
2. Vorsitzender: Prof. Dr. Martin Grond
3. Vorsitzender: Prof. Dr. Gereon R. Fink
Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter

Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0) 30 531437930, E-Mail: info@dgn.org

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