Nervengeflechte in 3D

Wer den Keller des Goethe-Zentrums für wissenschaftliches Rechnen betritt, glaubt sich im ersten Moment in der „special effects“ Abteilung eines Filmproduzenten. Der Raum ist schwarz und wird, wie im Kino, von einer großen Leinwand dominiert.

Der Zuschauer setzt eine 3D-Brille auf, die mit Referenzpunkten ausgestattet ist, so dass der Computer genau weiß, wo sich der Betrachter befindet. Ein „Spezialbeamer“ projiziert nun das filigrane und komplex verknüpfte Netzwerk von Nervenzellen aus dem Hippocampus einer Ratte. Doch in dieser „Dreamfactory“ erscheint sie nicht nur in 3D. Der Zuschauer kann das Bild auch noch mithilfe eines „Joysticks“ in alle Raumrichtungen drehen, und sogar direkt in das Geflecht aus bläulich schimmernden Nervenfasern hineingehen.

Dass die Bilder so täuschend echt aussehen, ist kein Zufall. Die zugrunde liegenden Daten stützen sich auf Mikroskopie-Aufnahmen, welche die Arbeitsgruppe von Prof. Gabriel Wittum am Goethe-Zentrum für wissenschaftliches Rechnen von kooperierenden Medizinern erhalten hat. Die Kunst besteht nun darin, aus den dreidimensionalen Voxeln der Mikroskopie-Aufnahme im Computer ein Gitter zu generieren, das die Struktur des aufgenommenen Objekts realistisch darstellt. Das Team aus Mathematikern und Informatikern nutzt Techniken aus der Bildverarbeitung, um dem Compter „beizubringen“, wie er Zellstrukturen erkennt. Der von Wittums Gruppe 2005 entwickelte „Neuronen Rekonstruktionsalgorithmus NeuRA“ bereitet mikroskopisch gewonnene Rohdaten so auf, dass der Rechner daraus Detail getreue „mathematische Zellen“ macht.

Die wissenschaftlichen Fragen, die Prof. Wittum und Juniorprofessor Gillian Queisser mit diesem Ansatz verfolgen, kommen aus der Neurobiologie. „Es gibt verschiedene Wege, sich der Komplexität des Nervensystems zu nähern“, erläutert Queisser. „In unserer interdisziplinären Gruppe aus Mathematikern und Informatikern haben wir uns vorgenommen, die Signalverarbeitung in einzelnen Nervenzellen und kleinen Netzwerken so realitätsgetreu wie möglich zu modellieren.“

Sobald man aber die vereinfachten Modell-Strukturen der Nervenzelle gegen realistische eintauscht, ergeben sich zahlreiche neue Herausforderungen. Zunächst einmal mussten die Wissenschaftler ein 3D-Modell für die Ausbreitung elektrischer Signale in einem dreidimensionalen Gitter entwickeln. „Damit wurde es erstmals möglich, ein Aktionspotential auf der Zellmembran in Zeitlupe zu verfolgen. Zusätzlich konnten wir auch den Raum innerhalb und außerhalb der Zelle erfassen“, so Konstantinos Xylouris aus der Arbeitsgruppe von Wittum, der an der Entwicklung des Algorithmus maßgeblich beteiligt war.

Durch diese Erfolge ermutigt, drang das Forscherteam weiter vor bis zum Zellkern. In der klassischen Lehrbuchdarstellung ist der Kern immer rund. Aber Aufnahmen von Zellkernen aus dem kooperierenden Labor von Prof. Hilmar Bading in Heidelberg zeigten, dass die Membran des Zellkerns auch auf unterschiedliche Weise eingefaltet sein kann. Welchen Vorteil hat die Zelle davon, die energetisch günstigste Form aufzugeben? Die Antwort fanden die Wissenschaftler, indem sie Kerne aus Hunderten von Gewebeproben mit NeuRA erfassten und das Verhalten von Kalzium-Signalen in unterschiedlich geformten Kernen untersuchten. Im Zusammenspiel von Simulation und Experiment konnten sie zeigen, dass die Zelle durch die Veränderung ihrer Kernmorphologie Kalzium-Signale verändern kann. So sind eingefaltete Zellkerne gut geeignet, hochfrequente Kalzium-Signale aufzulösen, wohingegen nicht eingefaltete Kerne ein ankommendes hochfrequentes Signal integrieren.

Das Fazit der Forscher: Das Zusammenspiel zwischen Morphologie und Signalverarbeitung ist ein wesentlicher Bestandteil zellulärer Funktionalität. Will man das Spektrum dieser Interaktionen von einem Modell abdecken, muss dieses die detaillierte Morphologie von Zellen beinhalten.

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Informationen: Junior-Prof. Gillian Queisser, Goethe-Zentrums für wissenschaftliches Rechnen, Campus Bockenheim, Tel: (069) 798-25282; Mobil: 0151-15171553; Gillian.Queisser@gcsc.uni-frankfurt.de.

Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt. 1914 von Frankfurter Bürgern gegründet, ist sie heute eine der zehn drittmittelstärksten und größten Universitäten Deutschlands. Am 1. Januar 2008 gewann sie mit der Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln als Stiftungsuniversität ein einzigartiges Maß an Eigenständigkeit. Parallel dazu erhält die Universität auch baulich ein neues Gesicht. Rund um das historische Poelzig-Ensemble im Frankfurter Westend entsteht ein neuer Campus, der ästhetische und funktionale Maßstäbe setzt. Die „Science City“ auf dem Riedberg vereint die naturwissenschaftlichen Fachbereiche in unmittelbarer Nachbarschaft zu zwei Max-Planck-Instituten. Mit über 55 Stiftungs- und Stiftungsgastprofessuren nimmt die Goethe-Universität laut Stifterverband eine Führungsrolle ein.

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