Mobile Response 2008 – Aus Katastrophen lässt sich lernen

Erdbeben – Alarm im Bürohochhaus. Wer sich nicht auskennt, schaut auf sein Handy, um sich aus dem Gebäude navigieren zu lassen. Mobile Sensorik hilft sofort zu ermitteln, ob das Gebäude einsturzgefährdet ist.

Solche Szenarien und Lösungsansätze im Bereich der mobilen Informationstechnologie für Notfallschutzplanung und Notfallmanagement präsentierten Sicherheitsforscher aus ganz Europa am 29. und 30. Mai in Bonn.

Auf dem internationalen Symposium „Mobile Response 2008“ von Fraunhofer IAIS beklagten die Experten aber auch klaffende Sicherheitslücken im Katastrophenschutz.

Ein Drittel des Landes war unter Wasser: Mobile Kom-munikationsgeräte fielen aus, weil sie nicht mehr aufgeladen werden konnten, denn das Stromnetz war zusammengebrochen. Die Versorgung mit Trinkwasser brach zusammen, weil es nicht mal einen Überblick über die Verteilung der Trinkwasser-Reservoire gab. Jedes dritte Fahrzeug der Polizeikräfte fiel durch das Hochwasser aus – und damit auch ihre mitgeführten Hilfsgeräte. Immer wieder schrien Menschen aus ihren Fenstern verzweifelt um Hilfe, sie waren von den Ret-tungskräften schlicht vergessen worden. Denn diese verfügten über keine Informationen, wie viele Mensch-en in der zu evakuierenden Straße lebten, noch wer in den einzelnen gefährdeten Gebäuden wohnte, geschweige denn, wie viele Menschen sich aktuell dort aufhielten – ein Lagebericht kurz nach der Flutwelle in Birma?

Nein, das Grauen passierte in unserer Nachbarschaft, im Juli 2007 im hochentwickelten England.

Ganz im Stil eines Wissenschaftlers bilanzierte der britische Sicherheitsexperte Chris Johnson die Lage im Katastrophenschutz nach dem verheerenden Hochwasser in der Grafschaft Yorkshire und der Stadt Sheffield, rund 270 Kilometer nördlich von London. Johnson eröffnete mit seiner Bilanz das diesjährige wissenschaftliche Symposium „Mobile Response 2008“, veranstaltet von den Fraunhofer-Instituten für Intelli-gente Analyse- und Informationssysteme IAIS und für Angewandte Informationstechnik FIT. Ein Who-is-who führender Experten aus der internationalen Sicherheits-forschung beschäftigte sich zwei Tage lang mit der Fehleranfälligkeit neuer Technologien. Ein durchaus selbstkritischer Ansatz, denn schließlich setzen die Forscher von Berufs wegen auf die mobile Informati-onstechnologie, um das Notfallmanagement effizienter und flexibler zu gestalten. In diesem Spannungsbogen bisheriger Mängel im Notfallmanagement und neuer Wege zu ihrer Beseitigung stellten die Teilnehmer ihre Innovationen vor. Diese reichen von mobilen Visuali-sierungen eines Fluchtweges aus Gebäuden über mobi-le Werkzeuge zur Schadensanalyse nach Erdbeben bis zur mobilen Wissensvermittlung für alle Einsatzkräfte. Doch auch in der Prävention ist vieles noch unerledigt. Etwa um bereits im Vorfeld möglicher Katastrophen den Einsatzkräften so viel Informationen und logistische Unterstützung wie möglich bereit zu stellen.

3600-Panoramabilder für den Ernstfall

Nicht nur in England stehen die Rettungskräfte vor dem Problem, dass Ihnen der Überblick fehlt, wie die Gebäudestruktur am Einsatzort aussieht, wie viele Menschen in den betroffenen Häusern wohnen, ob es Seniorenwohnungen sind oder Haushalte kinderreicher Familien.

Ein möglicher Ansatz, damit Einsatzplaner im Ernstfall die richtigen Entscheidungen treffen können, wurde von Fraunhofer IAIS vorgestellt: 360-Grad-Panoramabilder von den Straßenzügen, über den Computer oder das Mobilgerät abrufbar. „Damit können Einsatzleiter ad hoc planen, wie viele Rettungskräfte sie dorthin entsenden müssen, die Feuerwehr kann schon auf der Fahrt zum Unglücksort feststellen, wie nah die benachbarten Gebäude stehen, wo genau die Zufahrt in einen Innenhof liegt und wie eng diese ist, oder ob es in un-mittelbarer Nähe irgendwelche besonderen Gefahrenquellen wie etwa ein Chemikalienlager gibt“, beschreibt Dr. Jobst Löffler, Projektleiter und Veranstalter der „Mobile Response 2008“, seinen Beitrag zum Symposium. Diese Rundum-Panoramabilder werden aufgenommen mit Autos, die bestückt mit dreidimensionalen Laserscannern und Kameras durch die Städte fahren und bis zu fünf Panoramabilder pro Sekunde aufnehmen. Die Bilder werden mittels GPS-Signal sofort geocodiert, um sie exakt in digitalen Karten verorten zu können. Damit lässt sich zum Beispiel die kürzest Anfahrt ermitteln. Im Ernstfall stehen die hochauflösenden dreidimensionalen Panoramabilder im 360-Grad-Format über ein vernetztes Archiv jederzeit der Einsatzplanung zur Verfügung.

Die Bilder lassen sich auf jedem Bildschirm wiedergeben. Ein entsprechendes Informationssystem gestattet dem Nutzer, tausende von Panoramen zu verbinden, sich virtuell in der digitalen Welt zu bewegen und jeden Winkel einer Stadt zu untersuchen. Die Bilder des 3D-Laser-Scanners ermöglichen den Einsatzkräften, die Dimensionen der betroffenen Gebäude zu messen sowie Details sichtbar zu machen, die von der Straße nicht erkennbar sind, wie zum Beispiel weitere Nebeneingänge und Balkone als mögliche Fluchtwege.

Multiple und Mobile Sensorik zur schnellen Schadensanalyse

Der Einsatz bildgebender Verfahren in Verbindung mit weiterer Sensorik dient auch zur schnellen Begutachtung von Gebäudeschäden, etwa nach einem Erdbe-ben. Das European Center for Training and Research in Earthquake Engineering aus Pavia, Italien, stellte auf dem Bonner Symposium einen mit Sensoren voll gespickten Kleinlaster vor. Auch das ist ein Ansatz zum Notfallmanagement. „Denn zu schnell“, so der italienische Professor Alberto Pavese, „werden Gebäudeschä-den falsch eingeschätzt. Manche Gemäuer sind gar nicht akut einsturzgefährdet, andere Gebäudestrukturen sind von ihrer Statik so komplex, dass herkömmliche Bewertungsverfahren nicht ausreichen, eine tat-sächliche Einsturzgefahr rechtzeitig zu erkennen.“

Für beide Entscheidungen spielt die Zeit eine wichtige Rolle. Um kurz nach dem Schadensereignis reagieren zu können, setzt Professor Pavese auf multiple und mobile Sensoren. Der Transporter ist bis unters Dach mit Technik vollgepfropft: die Sensoren reichen von Messapparaturen mit elektromagnetischen Radiowellen über GPS-Empfänger zur exakten Verortung der betroffenen Gebäude bis zu IP-Kameras, die ihre Bilder direkt an den zugewiesenen Computer zur Analyse weiterleiten. Alle Sensoren und Empfänger sind kabellos verknüpft, also hochflexibel und mobil einsetzbar.

Hinzu kommen lokale Datenbanken. Kabellos können hieraus Karten des betroffenen Gebietes hochgeladen werden, oder auch lokale Daten von der Erdbebenstärke im Epizentrum, aktuelle Studien zum Erdbebengebiet oder GPS-Daten, um alle öffentlichen und wichtigen Gebäude oder Infrastrukturen in ein exaktes Schadens-Szenario integrieren zu können.

Fluchthelfer Handy

Wer sich jedoch selbst und das möglichst schnell aus beschädigten Gebäuden retten muss, dem hilft künftig sein Handy. Selbst wenn die Mobiltelefon-Sender längst ausgefallen sein sollten. Luca Chittaro von der Universität Udine präsentierte eine innovative Evakuie-rungshilfe. Diese identifiziert mit Hilfe von elektromag-netischen Wellen (RFID) die Position der Evakuierungs-hilfe bzw. des Handys. Alle 4 Meter sind im Gebäude RFID-Tags angebracht, die permanent ein schwaches Signal senden. Das RFID-Lesegerät im Handy kommuniziert mit den Transpondern und kann nun seinen Nutzer mittels dreidimensionaler Bildgebung von Fluren und Treppen zuverlässig zum Fluchtweg und aus dem Gebäude navigieren. Die Richtung, in der der Fluchtweg zu benutzen ist, wird im Display durch auf den Fluchtweg projizierte Pfeile deutlich gemacht. Notausgänge werden durch aufblinkende Lichter im Display markiert. Damit das System immer genau weiß, wo genau sich der Handynutzer befindet, wird alle 500 Millisekunden seine Position gemessen: mittels entfer-nungsabhängiger Signalstärke zwischen Lesegerät und den im Gebäude verteilten Transpondern.

Daten entscheiden über die Qualität der Hilfe

Da Wissenschaftler nicht auf einem Auge blind sein wollen, sehen sie aber auch die immensen Herausforderungen, mit denen sie als Forscher wie auch die herstellende Industrie bei der Entwicklung neuer informationstechnologischer Hilfsmittel für den Katastrophenschutz noch konfrontiert sind. Zusätzlich zu den ungelösten technologischen Herausforderungen kommen schließlich noch die hohen Anforderungen der Anwender hinsichtlich Ausfallsicherheit, die Vielfältigkeit vorhandener Organisationsstrukturen und die ungeordnete Landschaft isolierter IT-Anwendungen, die die Etablierung neuer Lösungen erschweren. Hierzu berichtete Professor Chris Johnson weitere erschreckende Beispiele vom Hochwasser in England: Die nationalen Katastrophendienste gelangten an die erforderlichen Planungsdaten nur über den Umweg der lokalen Dienste. Diese wiederum waren wegen der vielen akuten Notrufe aus der Bevölkerung überfordert. Die Folge war eine Fehleinschätzung der betroffenen Häuserzahl. Statt der vermuteten 3000 Häuser hatten sich die Einsatzplaner um den Faktor 10 verhauen: unter Wasser standen tatsächlich rund 30.000 Häuser! „Der Mangel nationaler Planungs(instrumente) war bei Hurrikan Kathrina eine eigene Katastrophe“ urteilt Chris Johnson. Und weil die Informationen nicht koordiniert waren oder gänzlich fehlten, wurden Rettungsfahrzeuge auf Straßen zum Einsatzort geleitet, die wegen der Überschwemmungen unpassierbar waren, so dass sie wieder umkehren mussten.

Teile Informationen und beherrsche die Lage

Bei großen Schadenslagen mit Beteiligung unterschiedlicher Rettungsorganisationen zeigt sich noch immer, dass die jeweils verwendeten IT-basierten Notfall-Syste-me meist nur isoliert von der jeweils eigenen Leitstelle genutzt werden können. Sie sind nicht mit anderen Informationssystemen verknüpfbar.

Eine mehrere Dienste koordinierende Einsatzleitung bedient sich hergebrachter Stadtpläne und Landkarten, Radiokommunikation, Magnettafeln und handgeschrie-bener Mitteilungen über Faxgeräte. Einsatzbefehle, die über diesen Weg kommuniziert werden müssen, brauchen viel zu lange (bis zu 20 Minuten) zum Empfänger vor Ort. Eine solche Einbahnstraßen-Kommunikation der Leitstelle lässt zudem die Erfahrung und Perspektivenvielfalt aller beteiligten Experten unberücksichtigt.

Das vom Fraunhofer IAIS koordinierte EU-Projekt SHARE bietet Rettungskräften eine mobile Systemarchitektur für schnelle und effiziente Entscheidungen. Diese intelligente und benutzerfreundliche Arbeitsumgebung basiert auf Push-to-Share-Technologie. Sie ermöglicht den mobilen Rettungsteams bei Großein-sätzen, im Dialog und Face-to-Face zu kommunizieren. Darüber hinaus erlauben multimodale Interfaces via automatischer Spracherkennung und der automatischen Wandlung von Text in Sprache eine Kommunikation während des Einsatzes „ohne Hände“.

Zentraler Ansatz von „SHARE“ ist eine bessere und schnellere Abstimmung der beteiligten Rettungsdienste. Alle Dienste teilen strukturierte, multimodale Informationsressourcen (Audio-, Video-, Text-, Grafik- und Standortinformationen) miteinander und können online auf aktuelle Informationen zum Einsatzstatus oder zu den Bedingungen vor Ort zugreifen.

Hierbei dienen so genannte Ontologien als Mittel zur Strukturierung eingehender Informationen und zum Datenaustausch. Der Einsatz solcher Ontologien ermöglicht, dass Informationen unterschiedlicher Dienste nicht nur von Menschen verstanden werden können, sondern auch von Maschinen automatisch miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Bei einem Hochwassereinsatz beispielsweise Wetterdaten mit Pegelstandsmessungen.

Zusammenfassung und Ausblick

32 Wissenschaftler aus Europa, den USA und Japan präsentierten und diskutierten auf der diesjährigen Mobile Response von Fraunhofer IAIS und Fraunhofer FIT ihre technischen und logistischen Lösungen für ein effizienteres Notfall- und Krisenmanagement. Mit dabei auch die Herstellerseite aus der Sicherheitsindustrie, angelockt durch neue Technologien für expandierende Märkte.

Denn der Bedarf an innovativen Sicherheitslösungen steigt angesichts zunehmender Naturkatastrophen und anderer Bedrohungsszenarien. So werden derzeit nach und nach die Risikobewertungen von Infrastrukturen und Gebäuden seitens der Haftpflichtversicherer oder auch der Sicherheits-behörden kräftig nachjustiert. Professor Chris Johnson spricht an einem eindrucksvollen Beispiel in England an, was für ganz Europa gilt, und zwar nicht nur für die Stromwirtschaft: „Bis 2005 noch hieß es, das Risiko der Überschwemmung eines Umspannwerkes läge bei 1 zu1000 im Jahr. Seit 2005 musste man dieses Risiko raufsetzen auf 1 zu 75 per annum – doch darauf sind die britischen Infrastrukturen gar nicht vorbereitet – dies ist kein britisches Problem, sondern dürfte in allen hochentwickelten europäischen Ländern ähnlich sein.“

Derzeit stellt ein nicht ausreichender Wissenstransfer aus der Forschung in die Anwendung eine immense Hürde dar, die die Einführung neuer Technologien im Sicherheitsbereich erschwert. Eine verstärkte Kommunikation von Forschern, Entwicklern und Anwendern ist daher unerlässlich, um den Einzug dieser nützlichen Werkzeuge zum Schutz von Menschenleben und kritischen Infrastrukturen in die Anwenderdomäne voranzutreiben. Wenn es gelingt, den Innovationsprozess in dieser Domäne zu forcieren, wird einerseits die Qualität und Effizienz des Notfallmanagements enorm verbessert. Andererseits können auch wichtige Positionen an der Spitze der entsprechenden Märkte besetzt werden, die zu einer vielversprechenden wirtschaftlichen Entwicklung führen können. Dies ist insbesondere für eine Wissensgesellschaft, wie sie sich in Deutschland derzeit ausbildet, eine große Chance.

Autor und Ansprechpartner:
Dr. Jobst Löffler
Jobst.loeffler@iais.fraunhofer.de

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Stefan Härtig Fraunhofer Gesellschaft

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