Neuronale Grundlage der räumlichen Ortung

Eine Publikation des Marburger Neurophysikers Frank Bremmer zur neuronalen Grundlage der räumlichen Ortung wurde in die „Faculty of 1000“ eingestuft, der webbasierten wissenschaftliche Bibliothek, in der besonders wertvolle Arbeiten aus dem Bereich der Lebenswissenschaften, die einen hohen Erkenntnissprung bedeuten, zusammengeführt werden.

Wir nehmen unsere Umwelt über verschiedene Sinne wahr: Sehen, Hören, Fühlen, Gleichgewichtssinn, Schmecken und Riechen. Die Zuordnung der verschiedenen Signale zu einem einzelnen Objekt und seinem Ort geschieht im Gehirn. Dabei wird jedoch das Bild eines bewegten Objektes, z.B. eine Autos, zunächst an einem anderen Ort der Großhirnrinde, dem so genannten Cortex, verarbeitet als der akustische Eindruck, in dem Falle der eines Geräuschs des laufenden Motors. Wie aber gelingt es uns, diese verschiedenen Signalströme wieder zu einem einheitlichen Signal und der Wahrnehmung eines fahrenden Autos zusammen zu führen.

Eine Antwort auf diese Frage lieferte eine im Sommer diesen Jahres publizierte Arbeit, an der der Marburger Neurophysiker Professor Dr. Frank Bremmer maßgeblich beteiligt war. Die im Journal of Neuroscience erschienene Publikation wurde nun in die „Faculty of 1000“ aufgenommen. Hierbei handelt es sich um eine webbasierte, wissenschaftliche Bibliothek, in der besonders wertvolle Arbeiten aus dem Bereich der Lebenswissenschaften („Life Sciences“), die einen hohen Erkenntnissprung bedeuten, zusammengeführt werden. Es handelt sich also um eine hohe Auszeichnung der wissenschaftlichen Arbeit von Bremmer und seinen Kollegen.

Unser tägliches Leben ist zwar durch das Sehen dominiert, doch können wir uns auch über das Hören oder das Fühlen in der Welt orientieren. Was uns an diesem Umstand als trivial erscheint, beruht in Wahrheit auf komplizierten Verschaltungen im Gehirn, die noch weitestgehend unverstanden sind. Vor allem die Tatsache, dass Signale aus den unterschiedlichen Sinnessystemen – Sehen, Hören, Fühlen, Gleichgewichtssinn, Schmecken und Riechen – zunächst an unterschiedlichen Orten im Gehirn verarbeitet werden, macht schon auf den ersten Blick deutlich, dass es sich bei der Verarbeitung dieser Reize vermutlich um aufwändige neuronale Prozesse handeln muss. In der Tat haben verschiedene neurowissenschaftliche Experimente in der Vergangenheit zeigen können, dass ein bestimmter Bereich des Cortex, der sog. hintere Scheitellappen (Posteriorer Parietal-Cortex, PPC), maßgeblich für eine intakte multisensorische Wahrnehmung der Welt ist.

So konnten Patientenstudien zeigen, dass die Schädigung des PPC ein charakteristisches Verhaltensdefizit zur Folge hat. PPC-Patienten nehmen Objekte in dem Teil des Raumes, der der Läsion gegenüber liegt, nicht wahr, obwohl ihre Augen intakt und die ersten Schritte der visuellen Signalverarbeitung unbeeinträchtigt sind. In einigen bestimmten Fällen essen Patienten (typischerweise nach einer rechtsseitigen Läsion) nicht von der linken Seite des Tellers, oder sie stoßen häufig mit ihrer linken Schulter gegen Türrahmen oder andere Hindernisse. Aufgrund dieses Krankheitsbildes bezeichnet man das Phänomen auch als kontralateralen Neglect. Interessanterweise haben PPC-Patienten jedoch nicht nur Defizite bei der Wahrnehmung visueller Reize. Vielmehr ist auch die Wahrnehmung akustischer und taktiler (Berührungs-) Reize davon betroffen. Nicht zuletzt aufgrund solcher neuropsychologischer Befunde geht man davon aus, dass der Parietalcortex der Verarbeitung so genannter multisensorischer Reize dient.

Diese und ähnliche Befunde zur Funktionsweise des PPC dienten der Gruppe um Prof. Bremmer bei ihrer tierexperimentellen Arbeit, die gemeinsam mit Kollegen an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde, als Ausgangspunkt. Die Neurowissenschaftler gingen der Frage nach, ob Nervenzellen in einem bestimmten Bereich des PPC, dem so genannten ventralen intraparietalen Areal (VIP), sowohl auf visuelle wie auch auf akustische Reize antworten. Das Areal VIP im Cortex des Rhesusaffen (Makaken) wurde als Zielareal gewählt, weil die Bochum-Marburger Wissenschaftlergruppe zuvor in einer bildgebenden Studie nachweisen konnte, dass das Areal VIP bei Makaken wie auch bei Menschen existiert. Die Neurowissenschaftler zeigten, dass Versuchsergebnisse, die man tierexperimentell gewinnt, auch auf den Menschen übertragen werden können.

In ihrer aktuellen Arbeit konnte die Gruppe um Bremmer erstmals zeigen, dass in der Tat mehr als 80% der Nervenzellen in Area VIP des Makaken auf akustische Reize reagieren. Die Bedeutung des Befundes wird durch die Tatsache verstärkt, dass die Nervenzellen nur dann antworten, wenn sich akustische oder visuelle Reize an einem identischen Raumort befinden (rezeptives Feld). Übertragen auf das obige Beispiel bedeutet dies, dass Zellen nur dann antworten, wenn das Bild eines Autos am selben Raumort erscheint wie das Motorengeräusch.

Im täglichen Leben führen wir sehr häufig – häufiger als unser Herz schlägt – schnelle, ruckartige Augenbewegungen aus. So gleiten beim Lesen dieser Zeilen die Augen nicht kontinuierlich über den Text, sondern es ergibt sich ein abwechselndes Muster von Augenbewegungen (sog. Sakkaden) und Phasen des Augenstillstandes (Fixation). Bei jedem Wechsel der Blickrichtung verändert sich das Bild der Umwelt auf der Retina, obwohl das betrachtete Objekt, wie der vor Ihnen befindliche Computermonitor mit dem Text, selbst jedoch in Ruhe. Aufgrund bislang nur wenig verstandener neuronaler Kompensationsprozesse nehmen wir in solchen Situationen die Objekte der Umwelt trotz ihrer Bewegung auf der Netzhaut als ruhig und stabil wahr. Ein solcher Kompensationsmechanismus für visuelle Reize könnte bei Zellen, die auch auf akustische Reize antworten, zur „Verwirrung“ führen, wenn nach einer Sakkade der visuelle Reiz an einer anderen Raumposition wahrgenommen würde als der akustische Reiz. Mit anderen Worten stellten sich Bremmer und Kollegen im letzten Teil ihrer Arbeit die Frage, ob das Bezugssystem, in dem die unterschiedlichen Sinnesreize eines Objektes kodiert werden, identisch ist. Und überraschenderweise konnten die Neurowissenschaftler tatsächlich zeigen, dass es in Area VIP des Makaken Zellen gibt, deren RF für akustische Reize sich bei Verlagerung der Augen auch im Raum verlagert. All dies, obwohl doch die Ohren und der Kopf unbewegt im Raum verharrten.

Weitere Informationen:
Professor Dr. Frank Bremmer,
Fachbereich Physik der Philipps-Universität,
Am Renthof 7,
35032 Marburg,
Tel. 06421/28-24162,
E-Mail: bremmer@staff.uni-marburg.de

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Dr. Viola Düwert idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-marburg.de

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