Alte Werte sind weiterhin modern

Ein interessanter und den Lebensunterhalt sichernder Beruf, eine erfüllte Partnerschaft und Kinder – das sind die drei wichtigsten Erwartungen, die junge Erwachsene an ihr Leben stellen. „Daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel verändert“, schätzt PD Dr. Matthias Reitzle von der Friedrich-Schiller-Universität Jena den Forschungsstand zum Thema „Erwachsenwerden im sozialen Wandel“ ein. „Auch im internationalen Vergleich, so belegt eine Studie über junge Leute aus 13 Ländern, wurden diese Werte übereinstimmend an die Spitze der Lebensziele gesetzt“, erklärt der Entwicklungspsychologe, der in seiner gerade vorgelegten Habilitationsschrift Entwicklungsübergänge, ihre Zeitpunkte und Hintergründe untersucht hat.

„Gestiegene Heiratsalter und eine sinkende Quote von Eheschließungen sind nicht gleichbedeutend mit Wertewandel und Abkehr von Ehe und Familie“, sagt Reitzle. „Diese sozialen Veränderungen wirken nur so drastisch, weil sie überwiegend mit den Verhältnissen in den 60er und frühen 70er Jahren verglichen werden, den goldenen Zeiten von Vollbeschäftigung und scheinbar unbegrenztem Wachstum“.

Deutlich zeigt eine Studie aus den Niederlanden mit lückenlosen Heiratsregisterdaten von 1850 bis 1989, dass die niedrigen Heiratsalter des Nachkriegsbooms historisch eine Ausnahmesituation darstellten. Um 1860 waren holländische Frauen im Schnitt 27,5 und Männer 29, wenn sie sich trauten – deutlich älter als in den späten 1980ern. Dies belegt, dass die so genannte Normalbiografie mit rasch aufeinander folgenden Übergängen ,ausgelernt – Wohnung gesucht – geheiratet – Kinder’ nie die Regel war, wenn man den historischen Bogen etwas weiter spannt. Nach Auffassung Reitzles wird die Institution Ehe auch durch die steigenden Anteile nichtehelicher Lebensgemeinschaften (NEL) nicht in Frage gestellt. „Liest man von ihrer Verzehnfachung, klingt das alarmierend“, sagt er. Tatsächlich ist der Anteil der so genannten NEL in der alten Bundesrepublik von 1972 bis 2000 von 0,6 auf rund 6 Prozent angestiegen. „Selbst wenn der Trend genau so weiter ginge, dauert es noch 111 Jahre, bis sich Ehen und nichteheliche Partnerschaften zahlenmäßig die Waage halten“, hat der Psychologe von der Universität Jena errechnet.

Ost-West-Differenzen

Trotz unterschiedlicher Erfahrungen und Vorbildern in Sachen Ehe, Scheidung, Familie und Frauenerwerbstätigkeit bestehen nur vergleichsweise geringe Unterschiede in der Lebensplanung junger Leute: Nur fünf Prozent in Ost und West wollen definitiv ohne Kinder bleiben. Dass dann fast die Hälfte der westdeutschen Akademikerinnen kinderlos bleibt, ergibt sich erst auf dem weiteren Weg ins Erwachsenenalter und lasse nach Ursachen fragen, so Reitzle. „Betrachten wir dabei die jungen Frauen in Ost- und Westdeutschland getrennt, kommen sehr interessante Unterschiede zu Tage“, erklärt der Psychologe von der Universität Jena. „Im Gegensatz zum Westen entscheiden sich in den neuen Bundesländern gut ausgebildete Frauen eher für Kinder – zumindest für eins. Die Kinderlosigkeit nach der Wende stieg deutlich bei jungen Frauen ohne Abitur. Vor allem sie sind verunsichert. Das erscheint verständlich: Rund die Hälfte dieser Frauen hat zwischen der Wende und 1996 wenigstens eine Episode von Arbeitslosigkeit erlebt“, fasst Reitzle seine Forschungsergebnisse zusammen.

Hinzu kommt ein durch die Erfahrungen der Elterngeneration geprägter Ost-West-Unterschied im Selbstverständnis von Frauen: Für Frauen im Osten stehen für das ,Projekt Kind’ die Sicherheit und Planbarkeit der eigenen beruflichen Zukunft im Vordergrund, nicht so sehr Qualität und Bestand der Partnerbeziehung. Viele haben als Töchter ihrer geschiedenen Mütter erlebt, dass die Mutter-Kind-Familie nicht gleichbedeutend mit Not und sozialem Abseits ist – wenn Mutter relativ sicher im Erwerbsleben steht. Letzteres ist unter den heutigen Marktbedingungen eher bei gebildeten Frauen der Fall. „Ihre gut gebildeten Schwestern im Westen hingegen fürchten oft, ihre hohen Bildungsinvestitionen in den Sand zu setzen. Wenn erst ein Kind den Karriereweg unterbricht und dann auch noch die Ehe scheitert, gerät dies leicht zum sozialen Abstieg. So haben es manche in ihren Familien und Freundeskreisen erlebt“, weiß Reitzle. Um das viel beklagte Problem der Kinderlosigkeit in Deutschland anzugehen, müssen nach Auffassung des Jenaer Psychologen unterschiedliche Akzente gesetzt werden. „Im Westen brauchen wir deutlich mehr Kindereinrichtungen und im Osten mehr berufliche und materielle Sicherheit für die jungen Frauen“.

„Wenn es die sozialen Bedingungen zulassen, dann entscheiden sich junge Leute auch für Familie und Kinder“, ist Reitzle überzeugt. Es sei Aufgabe auch der Sozialwissenschaften, über die Betonung von individuellen Fähigkeiten und Stärken hinaus für Bedingungen zu sorgen, unter denen allen jungen Menschen ihre relativ konventionellen Lebensziele erreichbar erscheinen. „Selbstredend gab und gibt es ungleich schlimmere Umwelten für das Erwachsenwerden als die derzeitige Bundesrepublik. Nur, damit vergleichen junge Leute ihre Lage nicht, sondern mit der hohen sozialen Sicherheit ihrer Elterngeneration – in einer prosperierenden BRD ebenso wie unter der künstlichen ,Käseglocke’ des DDR-Systems’, schließt der Jenaer Psychologe, der zurzeit aktiv am Ausbau des „Center for Applied Developmental Science“ an der Jenaer Universität mitwirkt.

Kontakt:
PD Dr. Matthias Reitzle
Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Am Steiger 3/1, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945208, Fax: 03641 / 945202
E-Mail: Matthias.Reitzle@uni-jena.de

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