Forschungsprojekt der Universität Hannover untersuchte Individualisierung in Ostdeutschland

Partnerschaft und Familie sind nach der Wende 1989 stärker Quelle emotionaler Bedürfnisbefriedigung und der Persönlichkeitsentfaltung als zu DDR-Zeiten. Dies ist eins der Hauptergebnisse einer empirischen Studie, die Dr. Gitta Scheller am IFPS (Institut für Freiraumentwicklung und Planungsbezogene Soziologie) an der Universität Hannover erarbeitete. In dem Forschungsprojekt über „Die Wende als Individualisierungsschub“ hat Scheller für den Erwerbsbereich, den Bereich der privaten Lebensformen und den Wohnbereich untersucht, wie die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern den Wandel der gesellschaftlichen Struktur verarbeiten und inwieweit sie nun DDR-typische Wege in der Lebensführung verlassen. Das Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Ulfert Herlyn wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell gefördert.

In vielen Bereichen konnte Scheller Individualisierungsprozesse in den neuen Bundesländern identifizieren. Im Erwerbsbereich verlieren die in der DDR verordneten Kontakte zu Kollegen des jeweiligen Arbeitskollektives an Bedeutung. Statt der Kontakte zu Arbeitskollegen nehmen die zu selbstgewählten Freizeitpartnern zu. Im Bereich der privaten Lebensformen ließ sich eine beachtliche Ausbreitung nichtkonventioneller Lebensformen, vor allem nichtehelicher Lebensgemeinschaften und lediger allein Lebender feststellen. Die Verantwortung für die Erziehung wurde mit der Wende wieder stärker in die Familien verlagert. Dies löste einen Wandel in den Erziehungsvorstellungen aus. Zu DDR-Zeiten erfolgte eine Anpassung der Kinder an den Tagesablauf der Vollzeit erwerbstätigen Eltern und die Erziehung zu Folgsamkeit und Gehorsam. Nun wird das Kind mehr als Subjekt mit besonderen Fähigkeiten, Neigungen und Begabungen gesehen, die zu fördern sind. Trotz Aufwertung der familiären Erziehungsfunktion wollen ostdeutsche Frauen aber nicht restlos in der Familie aufgehen. Ihre in der DDR erworbene Unabhängigkeit ist ihnen weiterhin wichtig. Sie grenzen sich deutlicher als westdeutsche Frauen von der traditionellen Mutterrolle ab, vertrauen ihr Kind auch eher als westdeutsche familienfremden Personen an und sind häufiger als westdeutsche Mütter erwerbstätig. Im Wohnbereich schwächt sich der zu DDR-Zeiten bestehende relativ enge Zusammenhang innerhalb der Nachbarschaft zu Gunsten lockerer und flüchtigerer nachbarschaftlicher Kontakte ab. Das Privatleben soll sich nicht mehr so stark im Blick-, Hör- und Kontrollbereich der Nachbarn abspielen.

Mehrere Entwicklungen, so Scheller, schränken das Abweichen von traditionellen Pfaden der Lebensführung in den ostdeutschen Bundesländern ein. In den neuen Bundesländern bestehen wenig Alternativen bei der Arbeitsstelle, da berufliche und betriebliche Wechsel aufgrund von Konkursen, Betriebsstilllegungen oder Kündigungen nötig werden. Angesichts des Mangels an Vollzeitstellen müssen viele ostdeutsche Frauen gezwungenermaßen Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse eingehen oder ganz zu Hause bleiben. Nach der Entstaatlichung im Zuge der Wiedervereinigung werden zudem traditionelle Aufgaben in ostdeutschen Haushalten wieder stärker privat geleistet mit der Folge, das ostdeutsche Frauen nach dem Umbruch mehr hauswirtschaftliche Tätigkeiten übernehmen als zuvor. Dieser Trend in Richtung Traditionalisierung der Geschlechtsrollen, der in Ostdeutschland vor allem die Hausfrauenrolle betrifft, ist in den alten Bundesländern so nicht feststellbar.

Hinweis an die Redaktion: Für nähere Informationen steht Ihnen Dr. Gitta Scheller unter 04207/7198 oder per Mail unter gitta.scheller@ifps.uni-hannover.de gern zur Verfügung. Ein Teilergebnis der Studie ist unter www.bpb.de, Publikationen, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19/2004 einsehbar.

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Dr. Stefanie Beier Universität Hannover

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