Umfrage von Chemnitzer und Bremer Soziologen: 70 Prozent der Deutschen für EU-Osterweiterung

Das Europäische Haus wird am 1. Mai 2004 größer: Sieben von zehn Deutschen erklären sich mit der EU-Osterweiterung einverstanden. Foto: European Commission Audiovisual Library

Repräsentative Umfragen von Chemnitzer und Bremer Soziologen erforschen Einstellungen zur bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union

Am 1. Mai 2004 treten zehn Länder mit insgesamt 75 Millionen Menschen der Europäischen Union bei. Entgegen dem Deutschland eine eher pessimistische Stimmung attestierenden Eurobarometer der Europäischen Union, sehen die Deutschen der EU-Osterweiterung grundsätzlich optimistisch entgegen. Zu diesem Schluss kamen jetzt Soziologen der Technischen Universität Chemnitz und der Internationalen Universität Bremen. Eine von beiden Universitäten im Jahr 2003 deutschlandweit durchgeführte repräsentative Umfrage von über 1000 Bundesbürgern, die durch das Bundesministerium des Innern finanziert wurde, zeigt, dass sich sieben von zehn Deutschen mit der Osterweiterung einverstanden erklären. Bei näherer Betrachtung der Befragten fällt auf, dass im bundesdeutschen Vergleich die Hamburger etwas reservierter sind, wobei immerhin noch mehr als die Hälfte der Befragten zustimmen. In Sachsen-Anhalt und Thüringen leben die stärksten Befürworter. Vier von fünf Befragten votieren hier für die EU-Erweiterung. Die Sachsen rangieren mit 68 Prozent Zustimmung nahe am Bundesdurchschnitt.

Die Mitarbeiter der Allgemeinen Soziologie I der TU Chemnitz und Soziologen der Internationalen Universität Bremen arbeiten seit mehr als einem Jahr am Thema „Einstellungen zur EU-Osterweiterung“. Im Rahmen ihrer Forschung führten sie in diesem Zeitraum weitere repräsentative Meinungsumfragen in den Grenzregionen in Deutschland, in der Tschechischen Republik sowie in Polen durch. Allgemeines Fazit: Zustimmung zur Erweiterung und Sorgen bezüglich dieses Schritts schließen sich nicht notwendig aus. Das Forscherteam um Dr. Susanne Rippl, Diplomsoziologe Dirk Baier (beide Chemnitz) und Prof. Klaus Boehnke sowie Diplompädagogin Angela Kindervater (beide Bremen) hat deswegen auch die konkreten Besorgnisse untersucht, die mit der Erweiterung verbunden werden. Zwischen den Sachsen und den Bewohnern anderer Bundesländer gibt es mit Blick auf die Sorgen kaum Unterschiede, nur dass im Osten die Besorgnisse generell höher sind als im Westen. Die Sorgen sind in erster Linie im wirtschaftlichen Bereich angesiedelt: Drei von vier Sachsen gehen davon aus, dass die Firmen die Osterweiterung zur Abwanderung nutzen werden, genauso viele erwarten einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Allerdings zeigt sich auch, dass zwar allgemein von einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation ausgegangen wird, dass aber gleichzeitig die persönliche Situation eher nicht betroffen sein wird: Etwa jeder dritte Sachse kann sich vorstellen, dass ihn die Arbeitslosigkeit oder ein sinkendes Einkommen trifft.

Ein weiterer Sorgenbereich ist die Kriminalität: Über zwei Drittel der befragten Sachsen meinen, dass die Erweiterung zu einem Kriminalitätsschub führt. Nicht ganz vergessen wird von den Befragten die Dimension der Bürokratie bzw. der Politik. Etwa jeder zweite Sachse meint, dass auch im ganz konkreten Leben eine Veränderung durch die Erweiterung zu spüren sein wird, insbesondere weil bürokratische Regelungen das Leben erschweren oder weil die Einflussmöglichkeiten auf die Regierungsarbeit weiter zurückgehen.

Überraschenderweise spielt – nicht nur in Sachsen – die Angst vor einer zunehmenden Migration eine nachgeordnete Rolle, ca. 35 Prozent der Befragten erwarten hier eine Veränderung.

Die Nähe zur Grenze als ein regionaler Faktor erhöht das individuelle Sorgenniveau nur leicht, das heißt je näher man an der Grenze zur Tschechischen Republik oder zu Polen lebt, um so pessimistischer betrachtet man die mit der Erweiterung verbundenen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen. Wichtiger als regionale Faktoren sind jedoch persönliche Umstände: Personen mit höherer Bildung, mit einer europäischen Identität und einer grundsätzlich positiv gestimmten Persönlichkeit verbinden mit der Erweiterung weniger Probleme.

Auch in den Beitrittsländern gibt es Bedenken, wie die Umfragen in den dortigen Grenzregionen belegen. Besondere Sorge bereiten den polnischen und tschechischen Befragten steigende Preise und eine weitere Verschärfung der Ungleichheit zwischen arm und reich. Zudem sorgen sich die Menschen hier im gleichem Ausmaß wie die Deutschen vor zunehmender Kriminalität und vor der europäischen Bürokratie. Was in Deutschland nur einer Minderheit Sorge bereitet, spielt in den neuen Beitrittsländern eine wichtigere Rolle: Jeder zweite bis dritte Befragte sieht eine Bedrohung für die geltenden kulturellen Maßstäbe, das heißt die Normen und Werte, die Sprache und die kulturellen Errungenschaften.

Die Forscher sprechen sich dagegen aus, die EU-Osterweiterung zu nutzen, um damit in Deutschland Stimmung gegen insbesondere wirtschaftspolitische Entscheidungen zu machen. Erste Analysen zeigen, dass die von den Befragten geäußerten Sorgen unter bestimmten Umständen der Ausbildung nationalistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen Vorschub leisten. Dies zu verhindern bedarf eines sachgerechten Umgangs mit der Osterweiterung.

Weitere Informationen gibt Dipl.-Soziologe Dirk Baier, Mitarbeiter im Projekt „Die EU-Osterweiterung als Mobilisierungsschub für rechte Einstellungen?“ an der Professur für Allgemeine Soziologie I, unter Telefon 0371 – 531 2704 oder per E-Mail unter dirk.baier@phil.tu-chemnitz.de

Media Contact

Dipl.-Ing. Mario Steinebach idw

Weitere Informationen:

http://www.tu-chemnitz.de

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