Störfaktor Krankheit – Warum Beschäftigte und Unternehmen gesundheitliche Probleme verleugnen

Mit 3,3 Prozent war der Krankenstand in Deutschland 2006 auf einem historischen Tiefststand, Mitte der 1970er Jahren waren es noch 5,5 Prozent. Seitdem sind die Fehlzeiten kontinuierlich zurückgegangen. Ob sich eine erste Meldung der BKK Versicherung, die zur Jahreswende veröffentlicht wurde, verallgemeinern lässt, wonach bei ihren Versicherten 2007 erstmals ein leichter Anstieg der Krankmeldungen festzustellen ist, ist noch nicht erkennbar.

Solche Kennziffern zur Arbeitsunfähigkeit können das Verhältnis von Arbeit und Gesundheit ohnehin nur ausschnitthaft erfassen, wie Wissenschaftler des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt in einer Studie festgestellt haben.

Die Ursachen für den Rückgang der Krankmeldungen sind in den veränderten Arbeitsstrukturen wie betriebliche Steuerungsprinzipien, Selbstorganisation, Ergebnisverantwortung, Zielvereinbarungen, Gruppen-, Team- und Projektarbeit zu suchen. Dazu der Soziologe Dr. Hermann Kocyba: „Der Rückgang der Fehlzeiten ist durchaus ambivalent: So kann beispielsweise Gruppenarbeit zur Reduktion von Fehlzeiten beitragen, weil Motivation und Arbeitszufriedenheit steigen, aber auch weil Gruppendruck und falsch verstandene Kollegialität dazu führen, krank zur Arbeit zu gehen.“

Vor diesem Hintergrund haben sich die Wissenschaftler des Frankfurter Instituts für Sozialforschung mit dem Phänomen der Krankheitsverleugnung befasst: Nehmen Beschäftigte gesundheitliche Probleme und Belastungen nicht angemessen wahr und setzen sie ihre Prioritäten einseitig auf berufliche Belange? Das Projekt basiert auf Interviews mit Betriebsärzten, Mitarbeitern von Betriebskrankenkassen und sozialmedizinischen Beratungsstellen, mit in Gesundheitsfragen engagierten Betriebsräten, Vertauensleuten und Mitarbeitern von Personalabteilungen. Neben Unternehmen der Automobil- und Automobilzulieferindustrie bezogen die Forscher auch Unternehmen der chemischen Industrie, der IT- und Software-Industrie, des Finanzdienstleistungs- sowie des Krankenhausbereichs in ihre Studie ein.

Die Untersuchung belegt, dass Krankheitsverleugnung in der Regel auf einem fatalen Zusammenspiel betrieblicher und individueller Umgangsweisen mit Gesundheitsproblemen basiert. Bei den Beschäftigten sind verschiedene Formen der Krankheitsverleugnung anzutreffen: verschweigen, ignorieren, die Symptome nur begrenzt wahrnehmen, nicht zur Kenntnis nehmen, obwohl anderen die Krankheit bereits deutlich auffällt. Die erhöhte Identifikation mit der Arbeit und der steigende Erfolgsdruck hindern die Arbeitnehmer offensichtlich daran, sich arbeitsunfähig schreiben zu lassen, wenn dies nicht absolut „unumgänglich“ ist. Gleichzeitig wächst der Zeit- und Termindruck, krankheitsbedingte Abwesenheit würde Kolleginnen und Kollegen stärker belasten und Terminzusagen gegenüber den Kunden gefährden.

Wie Unternehmen mit gesundheitlichen Belastungen umgehen, hat Auswirkungen auf das Verhalten des Einzelnen. Wenn Betriebe leugnen, dass Krankheitsursachen vielfach in der Arbeit und ihrer organisatorischen Gestaltung liegen, geschieht dies nach unterschiedlichen Mustern: Verantwortung wird abgewehrt; die Rahmenbedingungen ändern sich nicht, aber dem Einzelnen wird der Weg in den Vorruhestand geebnet (Opferfürsorge); Leistung und Personal sind so ausgelegt, dass jede Krankheit zu Funktionsproblemen führt (Ignorieren); es wird genau kontrolliert, wer wann krank ist, um den Betroffenen zu kontrollieren („Jagd auf Kranke“) oder – bestenfalls ihm „kontrollierende Fürsorge“ angedeihen zu lassen („Anwesenheitsverbesserungsprozesse“). Ist ein Arbeitnehmer zwar physisch präsent, krankheitsbedingt aber nicht voll einsatzfähig und steckt möglicherweise auch noch Kollegen an, dann erweist sich die einseitige Ausrichtung an den Fehlzeiten nicht nur gesundheitspolitisch, sondern auch betriebswirtschaftlich als verkürzt.

Die Autoren der Studie plädieren für ein breiteres Verständnis betrieblicher Gesundheitspolitik. Denn Krankheitsverleugnung bedeute im Kern, dass ein angemessener Umgang mit Gesundheitsproblemen blockiert wird. Vor dem Hintergrund, dass es immer mehr ältere Arbeitnehmer gibt, müssen sich Unternehmen nicht nur Gedanken über eine alternsgerechte, sondern auch „krankheitsgerechte“ Arbeitsgestaltung machen.“Das Betriebsklima muss eine rechtzeitige und angemessene Auseinandersetzung mit Gesundheitsproblemen zulassen“, so Kocyba.ähere Informationen: Dr. Hermann Kocyba, Dr. habil. Stephan Voswinkel, Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Telefon: 069/75 61 83 -34 oder -41, E-Mail: kocyba@em.uni-frankfurt.de; Voswinkel@em.uni-frankfurt.de

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Ulrike Jaspers idw

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