Gewichtsverlust durch Ortsveränderung

Kartenausschnitt der Umgebung des Tagungsortes Darmstadt. Quelle: LIAG<br>

9,81 m/s² — diese Zahl versucht ein Physiklehrer seinen Schülerinnen und Schülern nahe zu bringen. Sie erinnern sich, die „Erdanziehungskraft“, die eigentlich Erdbeschleunigung heißt.

Das Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik hat sie überall in Deutschland genau gemessen bzw. vorhandene Messwerte zusammengetragen und ausgewertet. Das Ergebnis ist die neue Karte der Bouguer-Anomalien des Erdschwerefeldes. Sie wird am 11.10.2010 in Darmstadt der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt (GeoDarmstadt2010).

Ein Blick vorab auf Karte und Messgeräte ist schon am 6.10.2010 um 14 Uhr im Geozentrum Hannover, Raum G 2.41 möglich, bitte telefonisch anmelden (s.u.).

Die Erdanziehung ist nicht überall gleich stark. Im Kartenbild werden Strukturen sichtbar, die für Laien einen ungewohnten, für Geowissenschaftler einen höchst spannenden Blick auf Deutschland freigeben. Die neue Karte wird für die geowissenschaftliche Grundlagenforschung benötigt, denn die dargestellten Schwere-Anomalien haben ihren Ursprung im Gestein der Erdkruste, so dass sie in enger Beziehung zu geologischen Strukturen stehen. Auch Energieversorger und Erzsucher haben an dieser besonderen Übersichtskarte Inte-resse. Nicht zuletzt spielt die Schwere für amtliche Höhensysteme eine wichtige Rolle. Gesteine mit hoher Dichte, wie z.B. Basalt, erhöhen die Schwere, Gesteine mit geringer Dichte, wie z.B. Steinsalz, verringern die Schwere.

Als ungleicher Zwilling steht die neue Schwere-Karte jetzt eigenständig neben der im Frühjahr bereits erschienenen Karte des Erdmagnetfeldes. Das Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik (LIAG) stellt der Geowissenschaft damit ein zweiteiliges Kartenwerk zur Verfügung, das zur kombinierten Interpretation herausfordert und Fachleuten neue Einsichten in den tiefen Untergrund ermöglicht.

Das Messgerät:
Die Schwere wird mit einem Gravimeter gemessen, einem für die heutige Zeit durchaus extravaganten Messgerät. Die Messung erfolgt nämlich mechanisch mit einer ultraempfindlichen Spiralfeder aus Quarz oder einer speziellen Metalllegierung, die über ein feinmechanisches Hebelsystem die Schwere auf 8 Nachkommastellen genau registriert. Vorsichtiger als mit Mutters Porzellankiste hantieren die Messingenieure mit dem Sensibelchen, und obendrein muss es ständig warm gehalten werden, damit es richtig funktioniert. Dennoch ist es weit gereist in Deutschland und hat mindestens alle fünf, oft auch jeden Kilometer, eine Messung gemacht, bis die Karte komplett war.
Genau genommen:
In erster Näherung stimmt der Wert 9,81 m/s², tatsächlich ist er aber ortsabhängig. Er hängt von der Abweichung der Erdfigur von einer perfekten Kugel ab, weiterhin von der durch Erdrotation verursachten Fliehkraft und schließlich vom geologischen Aufbau der Erde. Global lässt sich eine Schwereabnahme vom Pol (9,83 m/s²) zum Äquator (9,78 m/s²) beobachten. Ein Mensch verliert demnach 0,5 % an Gewicht, wenn er sich nicht an einem der Erdpole, sondern am Äquator wiegt. Noch kleinere regionale Unregelmäßigkeiten werden durch die Massenverteilung im Untergrund verursacht, also durch den geologischen Aufbau der Erde. Der entscheidende Parameter ist hierbei die variierende Dichte der Gesteine (Dichte: Masse / Volumen). Dadurch bedingte Variationen im Erdschwerefeld weist diese neue Bouguer-Karte aus. Um diese Effekte sichtbar zu machen, wird von jedem Messwert ein theoretischer Wert abgezogen, der sich für eine homogen aufgebaute Modell-Erde mit konstanter Dichte ergeben würde. Die resultierende Differenz nennt man zu Ehren des französischen Astronomen Pierre Bouguer in der Fachwelt „Bouguer-Anomalie“. Traditionell werden Bouguer-Anomalien in der Einheit „Milli-Gal“ (1 mGal = 0,00001 m/s2) angegeben. Die Karte stellt also Veränderungen in der 5. Nachkommastelle des bekannten Wertes 9,81 m/s2 dar.
Deutschland:
In Deutschland variiert die Schwere zwischen -140 mGal im Bereich der Alpen und +40 mGal im Bereich des Magdeburger Schwerehochs. Letzteres ist die größte in Mitteleuropa bekannte Anomalie. Weiter bildet die Karte sowohl lokale Strukturen, wie die Salzstöcke Norddeutschlands, als auch regionale Einheiten, wie z.B. den Oberrheingraben, ab. Die geringe Schwere im Alpenvorland und in den Alpen ist typisch für viele Hochgebirge der Welt. Man vermutet daher, dass Hochgebirge eine „leichte Wurzel“ haben.
Kooperation:
Mit wissenschaftlicher Akribie und Ausdauer, wie sie für die Kompilation großer Kartenwerke notwendig ist, aber auch mit einer guten Portion Mathematik und Physik, ist es gelungen, viele einzelne Messkampagnen aus den letzten 80 Jahren zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Gemeinsam mit den Geophysikern des LIAG in Hannover haben auch Wissenschaftler der Geophysik GGD mbH aus Leipzig zum Entstehen der Karte entscheidend beigetragen.

Die offizielle Bezeichnung der Karte lautet: „Schwerekarte der Bundesrepublik Deutschland 1:1.000.000, Bouguer-Anomalien“. Die Autoren sind: P. Skiba, Dr. G. Gabriel, Dr. R. Scheibe und O. Seidemann. Weitere Beiträge zur Karte erbrachten: D. Vogel, Prof. Dr. C. Krawczyk, C. Vinnemann und J. Herrmann. Von mehreren Landes- und Bundesbehörden, Instituten und von der Industrie wurden Gravimetrie- und Topographiedaten für das Projekt bereitgestellt. Darunter sind das Landesamt für Bergbau, Geologie und Rohstoffe Brandenburg, das Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern, das Sächsische Landesamt für Umwelt und Geologie, das Landesamt für Geologie und Bergwesen Sachsen-Anhalt, die Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie, das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, Firmen des Wirtschaftsverbandes Erdöl- und Erdgasgewinnung e.V., das LIAG sowie ausländische Partnereinrichtungen und das Bureau Gravimétrique International.

Die Datenbasis:
Das Datenmaterial entstammt überwiegend dem Fachinformationssystem Geophysik des Leibniz-Institutes für Angewandte Geophysik. Diese Sammlung beinhaltet mehr als 275 000 Gravimetriepunkte, die in den letzten Jahrzehnten von den genannten Einrichtungen erfasst wurden. 70 000 Punkte im Ausland wurden hinzugefügt.
Das Institut:
Das Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik mit Sitz in Hannover, kurz LIAG, ist ein eigenständiges Forschungsinstitut. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und wird als Einrichtung von überregionaler Bedeutung von Bund und Ländern gemeinsam finanziert.
Kontakt:
Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik, Stilleweg 2, 30655 Hannover
Herr Diplom-Geophysiker Dr. Gerald Gabriel Tel.: 0511 / 643-3510
Mail: gerald.gabriel@liag-hannover.de
Frau Diplom-Geophysikerin Prof. Dr. Charlotte Krawczyk Tel.: 0511 / 643-3518
Mail: charlotte.krawczyk@liag-hannover.de
Herr Diplom-Ingenieur Piotr Skiba Tel.: 0511 / 643-2521
Mail: piotr.skiba@liag-hannover.de

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Weitere Informationen:

http://www.liag-hannover.de

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