50 Jahre Langzeitbeobachtungen in der Ostsee bringen überraschende Veränderungen ans Licht

Die Ostsee gehört zu den am besten untersuchten Meeren der Welt: Seit vielen Jahrzehnten werden hier an zahlreichen Orten kontinuierlich Daten zum Zustand der Meeresumwelt erhoben. So entstanden Langzeitdatensätze, die teilweise mehr als 50 Jahre umfassen.

Ein Großteil dieses rund um die Ostsee verteilten Datenschatzes wurde nun als umfangreiche Dokumentation für die wissenschaftliche Öffentlichkeit zusammengestellt. Er besteht aus über 14 Millionen Messdaten und betrifft sowohl die Meteorologie und das Klima als auch die Physik, Chemie und Biologie der Ostsee. Die Langzeitdatensätze belegen, dass sich in dem beobachteten Zeitraum unvorhersehbare Veränderungen in den physikalisch-chemischen Rahmenbedingungen des Ökosystems Ostsee ergeben haben.

Beispiel Sauerstoffversorgung: Während der 1980er Jahre setzten die für die Sauerstoffversorgung des baltischen Tiefenwassers wichtigen Zuströme von sauerstoffreichem Salzwasser aus der Nordsee fast vollständig aus. An den Messdaten lässt sich erkennen, wie der Salzgehalt des Tiefenwassers demzufolge bis zum Beginn der 1990er Jahre auf ein Minimum absank. Zehn Jahre später macht sich dieser Einfluss auch im Oberflächenwasser bemerkbar. So lange braucht ein Wassertropfen aus dem Tiefenwasser nun einmal, um in die oberen Wasserschichten zu gelangen.

Zu Beginn der 1990er Jahre kam es wieder häufiger zu Salzwassereinbrüchen. Aber entgegen den Bedingungen vor 1980 erfolgten sie nicht mehr überwiegend im Winter, sondern häufiger im Spätsommer. In Folge dieser jahreszeitlichen Verschiebung ist das Tiefenwasser im Bornholm- und Gotlandbecken seit 1997 viel wärmer als früher.

Und nicht nur auf die Temperatur hat die jahreszeitliche Verschiebung Einfluss: Der Sauerstoffgehalt des in die Ostsee einströmenden Nordseewassers ist im Spätsommer viel niedriger als im Winter. Spätsommerliche Salzwassereinströme können überraschenderweise jedoch trotzdem die tiefen Bereiche belüften, wenn sie an besonderen topographischen Positionen in Kontakt mit dem kalten und sauerstoffreichen, so genannten Winterwasser der Ostsee kommen. Die Folgen sind ein teilweise enges Nebeneinander von belüfteten Zonen und Bereichen unter akuter Sauerstoffnot und ein rascher, oft krasser Wechsel zwischen diesen Zuständen, die jeweils zu gravierenden Veränderungen in der Verfügbarkeit von Nährstoffen führen.

Beispiel Nährstoffe: Im Oberflächenwasser zeigen die Nährsalze Phosphat und Nitrat im langjährigen Überblick einen drastischen Anstieg in den 70er Jahren, der überwiegend auf den damals in kurzer Zeit stark anwachsenden Düngemitteleinsatz in der Landwirtschaft zurückgeführt wird. Die Messwerte sind seitdem fast unverändert auf diesem hohen Niveau, welches in etwa doppelt so hoch ist wie der natürliche Hintergrundwert. Diese „Überdüngung“ zeigte sich bei der Biomasse der Algen erst mit einer zeitlicher Verzögerung. Über die gesamten letzten 40 Jahre gesehen ist es jedoch ebenfalls zu einer Verdoppelung der Biomasse gekommen.

Das Fundament dieses Datenschatzes basiert auf den am Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) verfügbaren Daten. Bereits seit Beginn der 1950er Jahre werden am IOW, bzw. seinen Vorgänger-Einrichtungen, ozeanographische Daten erhoben. Erste Expeditionen fanden 1955 statt. Schon bald etablierte sich ein festes Messprogramm von 5 Fahrten pro Jahr mit 80 – 100 festen Positionen zur Probennahme in der südlichen und zentralen Ostsee, das im Wesentlichen bis heute fortgeführt wird.

Die Ergebnisse dieser Messfahrten stellen einerseits den deutschen Beitrag zum Ostseeüberwachungsprogramm der Helsinki-Kommission zum Schutz der Ostsee (HELCOM) dar, sind andererseits aber auch ein wesentlicher Fundus für die Forschungsaktivitäten des Warnemünder Instituts.

Insgesamt haben sich unter der Federführung des IOW 64 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Dänemark, Finnland, Polen und Schweden an der Dokumentation beteiligt. Die Zusammenstellung zeigt einmal mehr die hohe Bedeutung von Langzeitdaten: ohne die kontinuierlichen Messungen wären die Umstellungen in den Rahmenbedingungen, wäre die Komplexität der Vorgänge nicht erkannt worden. Ohne ein fundiertes Verständnis dieser Rahmenbedingungen gibt es jedoch auch keine Basis für zukünftige Szenarien zur Entwicklung des Ökosystems. Und selbst das am besten untersuchte Seegebiet der Welt kann die Meeresforscher noch überraschen.

Kontakt:
Dr. Rainer Feistel, Tel.: 0381 5197 152
Dr. Barbara Hentzsch, Tel.: 0381 5197 102
Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde
Seestr. 15, 18119 Rostock
R. Feistel, G. Nausch, N. Wasmund (Eds): State and Evolution of the Baltic Sea, 1952 – 2005. A Detailed 50-Year Survey of Meteorology and Climate, Physics, Chemistry, Biology, and Marine Environment. John Wiley & Sons, Inc., Hoboken 2008.

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