Saarbrücker Mathematiker erhält millionenschweren Forschungspreis der Europäischen Union

Speicher ist Spezialist für die so genannte Freie Wahrscheinlichkeitstheorie und untersucht die theoretischen mathematischen Grundlagen, die zum Beispiel für moderne Kommunikationsnetze von Bedeutung sind. Der Europäische Forschungsrat ERC (European Research Council) stellt dafür ab Februar 2014 2,2 Millionen Euro bereit.

Moderne Computernetzwerke, ob zuhause, in Firmen oder öffentlichen Einrichtungen, sind oft drahtlos. Doch wie funktioniert die Übertragung von Informationen in einem solchen Netzwerk genau und wie kann man sie verbessern? Antworten auf diese Fragen ergeben sich unter anderem aus der Arbeit der Mathematiker um den Saarbrücker Professor Roland Speicher. Die Theoretiker erforschen die mathematischen Grundlagen, die zum Beispiel hinter solchen Netzwerken stehen. Gelingt es, die mathematischen Regeln für diese Art des Kommunikationsaustauschs zu durchschauen, könnten sich daraus zum Beispiel die Grundlagen für effizientere Netzwerke ergeben.

Ein konkretes Rechenbeispiel: Ein heimisches W-LAN-Netzwerk besteht aus dem Router und einem Computer. Router und Computer senden und empfangen ihre Datenpakete auf – der besseren Berechenbarkeit halber – zehn Kanälen. Jeder Kanal des Routers kann mit jedem Kanal des Computers und umgekehrt kommunizieren. So ergeben sich 102 = 100 unterschiedliche Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Router und Computer. Schaut der Nutzer ein Video im Netz an, wird dieses über die Antenne des Routers an die Antenne des Rechners geschickt, und zwar nicht am Stück und von einem Kanal zum anderen, sondern in einzelnen Paketen über die gesamten 100 Kommunikationsmöglichkeiten. Welches Paket dabei welchen Kanal nimmt, ist Zufall. So entsteht ein theoretisch unendlich großes Beziehungsgeflecht zwischen beiden Antennen, eine so genannte Matrix.

Was genau passiert, wenn solche Matrizen unendlich groß werden, ist mathematisch bisher nicht hinreichend beschrieben. Das wollen die Mathematiker um Professor Roland Speicher in den kommenden fünf Jahren nun ändern. Mithilfe der Freien Wahrscheinlichkeitstheorie möchten die Wissenschaftler solche Beziehungsgeflechte besser verstehen. Spezifischer geht es ihnen darum, Methoden aus der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie in einen Rahmen nichtkommutativer Strukturen zu setzen. Normalerweise „kommutieren“ Zahlen, sprich: Es ist egal, ob man 3 mal 4 oder 4 mal 3 rechnet. Das Ergebnis lautet immer 12. Für Matrizen gilt dieses Kommutativgesetz nicht mehr. Professor Speicher verdeutlicht diesen Umstand mit einem Bild: „Ob man sich erst nach rechts und dann nach links wendet oder umgekehrt, macht keinen Unterschied in einem rechtwinkligen Straßennetz, wohl aber, wenn man auf einen Baum klettert. Normale Zahlen sind in diesem Vergleich wie Straßennetze, Matrizen aber wie Bäume“, sagt der Mathematiker. „Grundsätzlich untersuchen wir sehr abstrakte Fragestellungen, die aber auch konkrete Anwendungsmöglichkeiten bergen, wie das Beispiel der Netzwerke zeigt“, erklärt Professor Speicher, der vor drei Jahren aus dem kanadischen Kingston nach Saarbrücken kam.

„Dass die Freie Wahrscheinlichkeitstheorie diese Möglichkeiten bietet, ist ein Glücksfall“, berichtet der Theoretiker. „Unsere Forschungsfragen ergeben sich primär nicht aus Anwendungen – diese sind eher Nebenprodukte –, sondern vielmehr aus den abstrakten Strukturen an sich.“ So war die seit etwa 30 Jahren existierende Freie Wahrscheinlichkeitstheorie zunächst ein reines Gedankenspiel von Mathematikern. „Erst durch Zufall haben sich in den letzten Jahren Anknüpfungspunkte für konkrete Anwendungsmöglichkeiten wie zum Beispiel den drahtlosen Netzwerken ergeben“, erklärt Professor Speicher.

Dass auch solch reine Grundlagenforschung Jahrzehnte nach ihrer Etablierung in der Wissenschaft der Allgemeinheit dienen kann, ist ein Beweis dafür, dass die universitäre Forschung neben dem kurzfristigen ökonomischen und regionalen Nutzen auch den reinen Erkenntnisgewinn zum Ziel hat. Genau aus diesem Grund gibt es die Advanced Grants des ERC, der damit „wegbereitende risikoreiche Forschungsvorhaben (…) herausragender etablierter Spitzenforscher“ fördern möchte (http://erc.europa.eu/advanced-grants).

Der ERC fördert Professor Speichers Forschungen ab Februar 2014 mit 2,2 Millionen Euro für fünf Jahre. Mit dem Geld sollen vor allem Stellen für junge Mathematikerinnen und Mathematiker geschaffen werden. Nach den beiden großvolumigen Forschungsvorhaben der beiden Professoren für Angewandte Mathematik, Sergej Rjasanow und Thomas Schuster (http://idw-online.de/de/news545752) ist dies der dritte große Erfolg für die Saarbrücker Mathematik innerhalb kurzer Zeit.

Weitere Informationen:
Prof. Dr. Roland Speicher
Tel.: (0681) 302 2427
E-Mail: speicher@math.uni-sb.de
Ein Pressefoto von Professor Speicher für den kostenlosen Gebrauch finden Sie unter www.uni-saarland.de/pressefotos. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen.

Hinweis für Hörfunk-Journalisten: Sie können Telefoninterviews in Studioqualität mit Wissenschaftlern der Universität des Saarlandes führen, über Rundfunk-Codec (IP-Verbindung mit Direktanwahl oder über ARD-Sternpunkt 106813020001). Interviewwünsche bitte an die Pressestelle (0681/302-3610).

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Friederike Meyer zu Tittingdorf idw

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