Brücken zwischen Leib und Seele

Mit insgesamt drei Millionen Euro wird die Europäische Union in den nächsten vier Jahren ein multinationales Forschungsprojekt fördern, in dem sich unter Heidelberger Führung neun europäische Fakultäten aus sieben Ländern zusammengeschlossen haben. Das Projekt DISCOS „Disorders and Coherence of the Embodied Self“ (Deutsch: Störungen und Einheit des verkörperten Selbst), gemeinsam konzipiert und beantragt von der Psychiatrischen und der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg, startet am 1. Februar 2007.

DISCOS zielt darauf ab, die Fundamente der menschlichen Persönlichkeit und deren krankhafte Störungen interdisziplinär zu erforschen. Dabei werden natur- und geisteswissenschaftliche Perspektiven zu ganzheitlichen Erkenntnissen verschmolzen, die zu einem tieferen Verständnis und einer besseren Behandlung von seelischen Krankheiten beitragen.

Europaweites Ausbildungsnetzwerk wird etabliert

Gleichzeitig wird DISCOS ein europaweites Ausbildungsnetzwerk etablieren: Durch gezielte Personalrotation zwischen den Standorten soll die fächer- und kulturübergreifende Kompetenz der beteiligten Forscher aus Neurowissenschaft, Philosophie, Psychiatrie, Psychosomatik und Entwicklungspsychologie weiterentwickelt werden. Von den jungen Forscherinnen und Forschern, die an dem Projekt beteiligt sind, wird deshalb erwartet, dass sie zweimal für jeweils einige Monate an eine andere Universität und in eine andere Disziplin wechseln.

„Das Selbstverständnis des Menschen steckt gegenwärtig in einer Krise“, erklärt Professor Thomas Fuchs, Heidelberg. „Diese Krise wirft Fragen auf, die nur in einer gemeinsamen Anstrengung von Natur- und Geisteswissenschaften beantwortet werden können“. Der Oberarzt an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik ist der Koordinator von DISCOS.

Die bedrohte Einheit des Selbst

„Dass man mit sich selbst identisch ist, erscheint jedem von uns im Alltag so selbstverständlich, dass wir gar nicht darüber nachdenken,“ so Professor Fuchs. Als ein in einem Körper verankertes Bewusstsein, als Person mit Leib, Seele und Geist befinden wir uns normalerweise mit uns selbst im Einklang, und erleben das, was Wissenschaftler als Selbstkohärenz bezeichnen.

Psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, Depressionen oder Borderline-Störungen lassen diese Einheit brüchig werden oder gar zerbrechen. Jeder fünfte Mensch, so schätzen Fachleute, leidet einmal in seinem Leben an einer so ernsten psychischen Störung – mit steigender Tendenz: Der beschleunigte Wandel der Gesellschaft, die Auflösung familiärer Strukturen und der Verfall traditioneller Rollenmuster in den Turbulenzen der Globalisierung erschweren dem Einzelnen die Ausbildung und Beibehaltung einer stabilen Identität.

Gleichzeitig stellen aber auch einzelne Wissenschaften, sei es die Hirnforschung oder die Kultursoziologie, das autonome Selbstbewusstsein des Menschen zunehmend in Frage. Ist das Selbst vielleicht nur eine Einbildung, ein illusionäres Konstrukt des Gehirns? Ist unsere Autonomie eine Selbsttäuschung? Wenn die individuelle Verantwortlichkeit in Zweifel gezogen wird, hat dies weitreichende Folgen für die Gesellschaft.

Gemeinsame Erkenntnisse zum Selbst erarbeiten

Die bedrohte Einheit des Selbst stellt die Gesellschaft vor grundlegende kulturelle, wissenschaftliche und therapeutische Aufgaben, zu deren Lösung Natur- und Geisteswissenschaften zusammenarbeiten müssen. Jede Disziplin neigt bislang dazu, denjenigen Teil der menschlichen Person, den sie mit ihrer Methode sieht, als das Ganze auszugeben. Diese Beschränkung durch die Integration von Disziplinen, den Austausch von Forschern und den Aufbau gemeinsamer Erkenntnisse zu überwinden, ist das Ziel von DISCOS.

Getragen wird DISCOS von den Universitäten Heidelberg (Psychiatrie), München (Psychosomatik), Mainz (Philosophie), Kopenhagen (Philosophie/ Psychopathologie), Budapest und London (beide Entwicklungspsychologie), Lüttich, Lyon und Parma (alle Neurowissenschaften).

Drei Ziele für die nächsten Jahre

Drei übergreifende Ziele hat sich das DISCOS-Netzwerk für die kommenden Jahre gesteckt – und damit die geldgebenden EU-Institutionen überzeugt:

1. Integrierte Wissenschaft: Erstmals sollen empirische und theoretische Forschungsergebnisse zu einem mehrschichtigen, dynamischen Modell des menschlichen Selbst und seiner Störungen verschmolzen werden.

2. Kommunikation: Damit diese Ergebnisse nicht nur in der Fachwelt zum Tragen kommen, sollen einerseits diagnostisch-therapeutische Leitlinien für die Medizin, anderseits verständliche Informationen für die allgemeine Öffentlichkeit vermittelt werden. Dazu soll insbesondere die Kooperation mit dem Schattauer-Verlag in Stuttgart beitragen, der an dem Netzwerk mitbeteiligt ist.

3. Fächerübergreifendes Ausbildungsprogramm: Ein gemeinsames Curriculum und Gastaufenthalte junger Wissenschaftler an anderen Standorten sollen dazu beitragen, die Zersplitterung der Erforschung des Selbstbewusstseins zu überwinden. „Das Training für junge Forscherinnen und Forscher in diesem integrierten Modell ist einmalig“, sagt Peter Henningsen, Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik der TU München, der diese Maßnahmen koordiniert. „Es könnte sich eines Tages als ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für die europäische Forschung erweisen.“

Kontakt:
Professor Dr. Dr. Thomas Fuchs
Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg
Tel.: 06221 / 56 2744 (Sekretariat)
E-Mail: thomas.fuchs@med.uni-heidelberg.de
Bei Rückfragen von Journalisten:
Dr. Annette Tuffs
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Universitätsklinikums Heidelberg
und der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 672
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Tel.: 06221 / 56 45 36
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