Forschungen über Emotionen und Selbstkontrolle

2,73 Millionen Euro für neue Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften

Die VolkswagenStiftung bewilligt insgesamt 2,73 Millionen Euro für vier neue Projekte und den Abschluss eines weiteren Vorhabens in ihrer Förderinitiative „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“. Wissenschaftler aus geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen sind hier aufgerufen Projektthemen zu definieren, die aktuelle, in der Gesellschaft diskutierte Fragestellungen aufgreifen; Fragestellungen, die sich darüber hinaus nur im interdisziplinären Verbund bearbeiten lassen – nach Möglichkeit unter Einschluss naturwissenschaftlicher Fächer. Mit diesem Konzept will die Stiftung dazu beitragen, die Geisteswissenschaftler in ihren Forschungsaktivitäten zu vernetztem, übergreifendem Arbeiten anzuregen. Die vier neuen Vorhaben sind sämtlich „Brückenprojekte“ zwischen den Geistes- und den Neurowissenschaften, in denen zum Beispiel über Wissen und Können, Selbstkontrolle und Verantwortung oder Erkennen und Handeln geforscht wird. Bewilligt wurden jetzt unter anderem:

1. 700.000 Euro für das Vorhaben „Kontrolle und Verantwortung. Untersuchungen zur Natur und Kultur des Wollens“ von Professor Dr. Thomas Goschke vom Institut für Psychologie I der Technischen Universität Dresden, Professorin Dr. Sabine Maasen, Extraordinariat für Wissenschaftsforschung/Wissenschaftssoziologie der Universität Basel, Professor Dr. Wolfgang Prinz vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in München sowie Professor Dr. Wilhelm Vossenkuhl, Philosophie-Department der Universität München – in Zusammenarbeit mit sieben weiteren Partnern an sechs Standorten;

2. 800.000 Euro für das Vorhaben „Wissen und Können. Kognitive Fähigkeiten biologischer und künstlicher Systeme“ von Professor Dr. Andreas Bartels vom Philosophischen Seminar der Universität Bonn und Professor Dr. Dr. Kai Vogeley von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum der Universität Köln – in Zusammenarbeit mit Privatdozent Dr. Mark May vom Institut für Kognitionsforschung der Universität der Bundeswehr Hamburg, Professor Dr. Albert Newen, Philosophisches Seminar der Universität Tübingen, und Professor Dr. Albert Stuhlmann-Laéisz, Philosophisches Seminar der Universität Bonn;

3. 650.000 Euro für das Vorhaben „animal emotionale. Gefühle als Missing Link zwischen Erkennen und Handeln“ von Professor Dr. Achim Stephan vom Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück und Professor Dr. Dr. Henrik Walter, Labor für Neuroimaging und klinische Neurophysiologie, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Frankfurt am Main.

Im Folgenden stellen wir Ihnen diese drei Vorhaben kurz vor; im Anschluss finden Sie in der Übersicht die vierte neue Bewilligung.

Zu 1: Was ist das handelnde Selbst? Haben wir einen freien Willen? Oder ist der Wille grundlegend durch unseren individuellen genetischen Bauplan und durch neuronale Aktivitäten bestimmt? Diese Fragen lösen in den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften derzeit heftige Debatten aus. Das Selbst befindet sich in einem Spannungsfeld: Einerseits artikuliert es einen Willen, löst Handlungen aus, die es (gar vor Gericht) rechtfertigen muss. Andererseits wird es als Produkt neuronaler und kognitiver Aktivitäten, historisch-bedingter Verankerungen und sozialer Praktiken betrachtet. Mit der Schlüsselfrage nach der Idee des willentlich handelnden Selbst setzt sich ein Forscherteam aus elf Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen an neun Standorten auseinander. Als Ergebnis eines – ebenfalls von der Stiftung geförderten – ersten Vorhabens zu diesem Thema gehen die Forscher davon aus, dass das Konzept der Willensfreiheit durch die neuen naturwissenschaftlichen Forschungen nicht generell als überholt gelten kann. Sie schlagen zu einer Entweder-oder-Lösung alternative Konzepte vor: Willenshandlungen sind demnach weder indeterminiert noch determiniert, sondern durch die Ziele, Erwartungen, Antizipationen und Bewertungen des Selbst bestimmt.

Im Zuge dieses Folgeprojekts zum Thema fokussieren die aktuell beteiligten Wissenschaftler nun auch die beiden gesellschaftlich relevanten Anwendungsfelder Rechtswissenschaft und Psychiatrie. Der Schwerpunkt liegt auf dem Willen als Fähigkeit zur Selbstkontrolle und der Analyse der Beeinträchtigungen dieser Selbstkontrolle. Im Projektbereich Philosophie befassen sich die Forscher zum Beispiel mit der Frage, wie sich selbstbestimmte von fremdbestimmten Entscheidungen und Handlungen abgrenzen lassen. Und: Kann Willensschwäche unter Umständen gar rational sein? Im Projektbereich Psychologie und Psychiatrie suchen die Wissenschaftler unter anderem nach den kognitiven Prozessen, auf denen die Fähigkeit zur Selbstkontrolle beruht. Wann werden Handlungen und Ziele als selbstbestimmt erlebt? Welche bewussten Prozesse liegen selbst kontrolliertem Verhalten zu Grunde? Wie wird der Einsatz von Selbstkontrolle selbst kontrolliert? Insbesondere auch krankhafte Beeinträchtigungen der willentlichen (Selbst-)Steuerungsfähigkeit stehen im Fokus des Forscherinteresses: Am Beispiel ausgewählter psychiatrischer Störungen wie Zwängen oder Schizophrenie wollen sie dem nachgehen. Im dritten Projektbereich Soziologie und Rechtswissenschaft wird die Ratgeberliteratur der 1920er und 1990er Jahre daraufhin gelesen, wie beispielsweise willentlich gesteuerte Lebensführung zu jenen Zeiten gesehen und bewertet wurde. Zudem geht es um verschiedene Ansätze der Bewertung individueller Verantwortung mit Blick auf das Strafrecht. Muss die „Verantwortungszuschreibung“ im Lichte neuer Resultate und begrifflicher Analysen letztlich überdacht werden?

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Kontakte zu Projekt 1

Technische Universität Dresden
Institut für Psychologie I
Prof. Dr. Thomas Goschke
Telefon: 03 51/46 33 – 7678
E-Mail: goschke@psychologie.tu-dresden.de

Universität Basel
Extraordinariat für Wissenschaftsforschung / Wissenschaftssoziologie
Prof. Dr. Sabine Maasen
Telefon: 00 41 61/2 60 21 99
E-Mail: sabine.maasen@unibas.de

Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
Prof. Dr. Wolfgang Prinz
Telefon: 0 89/3 86 02 – 255
E-Mail: prinz@cbs.mpg.de

Universität München
Philosophie-Department
Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl
Telefon: 0 89/21 80 – 2386
E-Mail: vossenkuhl@lrz.uni-muenchen.de
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Zu 2: Wir leben von unserem Wissen und unserem Können. Teile unseres Wissens – wie etwa das wissenschaftliche Wissen – besitzen die Struktur von Sätzen und bilden ein Reservoir, auf das wir bei der Aktualisierung unserer Fähigkeiten zurückgreifen können. Für andere Fähigkeiten, wie etwa das Klavierspielen, gilt dies nicht. Sie sind umgekehrt auch zu unterscheiden von jenen Fähigkeiten, die mit reflexartigen oder starren Verhaltensweisen einhergehen – und entsprechend nicht als kognitiv gelten. Ziel der Wissenschaftlerteams aus Bonn, Köln, Hamburg und Tübingen ist es, die verschiedenen Mechanismen zu untersuchen, die dem Können zu Grunde liegen. Dabei bauen sie vor allem auf der Annahme auf, dass Wissen beim Menschen meist explizit sprachlich repräsentiert ist, hingegen kognitive Fähigkeiten durch sprachunabhängige begriffliche und vorbegriffliche Repräsentationen gesteuert werden. Aus diesen Unterschieden hoffen sie neue Erkenntnisse ableiten zu können hinsichtlich der Bedingungen, unter denen der Erwerb und die Verankerung – auch auf neuronaler Ebene – von Wissen auf der einen und von kognitiven Fähigkeiten auf der anderen Seite erfolgreich verlaufen.

Die Forscher wollen unter anderem – am Beispiel der räumlichen Orientierung – der Frage nachgehen, inwieweit Tiere, Kleinkinder oder Roboter über begriffliche und vorbegriffliche Fähigkeiten verfügen. Geplant sind auch experimentalpsychologische und neurowissenschaftliche Untersuchungen zur menschlichen Raumwahrnehmung. Hier geht es um messbare Verhaltensauswirkungen, konkret um die Schnelligkeit und Genauigkeit „räumlicher Urteile“ von Testpersonen. Parallel dazu soll untersucht werden, ob sich eine spezifische Hirnaktivierung nachweisen lässt je nach „Erwerbsbedingung“ (sprachlich vermitteltes Raumwissen beziehungsweise sensomotorisch erworbene Raumerfahrung) – und ob das nachweisbare Hirnaktivierungsmuster unabhängig ist von der Präsentationsart (sprachlich versus bildhaft). Die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchungen sollen für die im begriffstheoretischen Teil des Projekts erarbeiteten Abgrenzungen zwischen vorbegrifflichen und begriffsbasierten Fähigkeiten auf der einen sowie sprachlich organisiertem Wissen auf der anderen Seite fruchtbar gemacht werden.

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Kontakte zu Projekt 2

Universität Bonn
Philosophisches Seminar
Prof. Dr. Andreas Bartels
Telefon: 02 28/73 – 3967
E-Mail: andreas.bartels@uni-bonn.de

Universitätsklinikum zu Köln
Klinik und Poliklinik für
Psychiatrie u. Psychotherapie
Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley
Telefon: 02 21/4 78 – 87155
E-Mail: kai.vogeley@uk-koeln.de

Universität der Bundeswehr Hamburg
Institut für Kognitionsforschung
Priv.-Doz. Dr. Mark May
Telefon: 0 40/65 41 – 2568
E-Mail: mm@hsu-hh.de

Universität Tübingen
Philosophisches Seminar
Prof. Dr. Albert Newen
Telefon: 0 70 71/29 – 76079
E-Mail: albert.newen@uni-tuebingen.de

Universität Bonn
Philosophisches Seminar
Prof. Dr. Rainer Stuhlmann-Laeisz
Telefon: 02 28/73 – 3710
E-Mail: stuhlmann-laeisz@uni-bonn.de
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Zu 3: Gefühle als Verbindungsglied zwischen Erkennen und Handeln – dieses dritte Schlüsselthema schließt inhaltlich an die beiden vorherigen an. Die Analyse von Struktur und Rolle unserer Emotionen ist so aktuell wie überfällig. Lange Zeit wurde – fälschlicherweise – angenommen, dass Handlungen und Entscheidungen dann einen guten Verlauf nehmen, wenn sie möglichst „emotionsfrei“ angelegt sind. Neuere Studien jedoch zeigen das Gegenteil: Fehlen beispielsweise emotionale Einstellungen gänzlich, so finden in der Regel keine angemessenen Handlungen beziehungsweise Entscheidungen statt. Die zentrale These des Vorhabens lautet daher: Es gibt einen für höhere kognitive Leistungen unverzichtbaren „affektiven Weltbezug“, und dieser bildet eine wichtige Grundlage für jegliche Weltorientierung bei fühlenden Lebewesen.

Die Forscher – und das ist entscheidend – gehen davon aus, dass Emotionen an sich bereits über kognitive Anteile wie beispielsweise eine Bewertungs- und Urteilsfunktion, über Elemente aus Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozessen verfügen. Sie konzentrieren sich bei ihrer Arbeit auf Emotionen im engeren Sinne wie Furcht, Wut, Freude, Trauer und die zum Teil stark kulturell gefärbten Emotionen Scham, Stolz, Neid und Eifersucht. Untersucht wird unter anderem, wie einmal hervorgerufene emotionale Zustände reguliert und kontrolliert werden können – was allerdings nicht meint, dass eine vollständige Kontrolle von Emotionen denkbar oder auch nur wünschenswert wäre. Vielmehr versuchen die Wissenschaftler herauszufinden, unter welchen Umständen emotionale Selbstregulation möglich und hilfreich ist und wann nicht. Erforscht werden soll auch die Rolle von Emotionen bei der Regulation sozialer Beziehungen. Dabei ist es ein Ziel, über die Messung der Hirnaktivität den Einfluss verschiedener Hirnregionen auf wertende Entscheidungsprozesse wie moralische und nicht-moralische Urteilsbildungen zu bestimmen. Das grundlegende Design zur Lokalisation emotionaler und sozialer „Strukturen“ sieht vor, dass die Probanden mit einer Geschichte konfrontiert und zu einer Entscheidung aufgefordert werden – etwa, ob ihrer Ansicht nach eine Verletzung einer (semantischen, sozialen oder moralischen) Norm erfolgt ist oder nicht.

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Kontakt zu Projekt 3

Universität Osnabrück
Institut für Kognitionswissenschaft
Prof. Dr. Achim Stephan
Telefon: 05 41/9 69 – 6226
E-Mail: achim.stephan@uos.de
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Des Weiteren bewilligte die Stiftung als neues „Schlüsselthema“:

4. 500.000 Euro für das Vorhaben „Repräsentation: Theorien, Formen und Techniken“ von Professor Dr. Hans Jörg Sandkühler und Dr. Silja Freudenberger vom Lehrstuhl für Theoretische Philosophie und Zentrum Philosophische Grundlagen der Wissenschaften, Universität Bremen – in Zusammenarbeit mit Professor Dr. Andreas K. Engel vom Institut für Neurophysiologie und Pathophysiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Professor Dr. Sandro Nannini, Dipartimento di Filosofia e Scienze Sociali, Università degli Studi di Siena/Italien, und Professor Dr. Dr. Kai Vogeley von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Köln;

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Kontakte zu Projekt 4

Universität Bremen
Lehrstuhl für Theoretische Philosophie
Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler
Telefon: 04 21/2 18 – 3221
E-Mail: hsand@uni-bremen.de

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut für Neurophysiologie und Pathophysiologie
Prof. Dr. Andreas K. Engel
Telefon: 0 40/4 28 03 – 6170
E-Mail: ak.engel@uke.uni-hamburg.de

Kontakt VolkswagenStiftung
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Christian Jung
Telefon: 05 11/83 81 – 380
E-Mail: jung@volkswagenstiftung.de

Kontakt Förderinitiative der VolkswagenStiftung
Dr. Vera Szöllösi-Brenig
Telefon: 05 11/83 81 – 218
E-Mail: szoelloesi@volkswagenstiftung.de

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