Sulfit-Desaster im Gehirn

Eine Therapie für eine unheilbare Erbkrankheit haben Jochen Reiss und Günter Schwarz entwickelt. Dafür erhalten sie den mit 10.300 Euro dotierten „Novartis Preis für therapierelevante pharmakologische Forschung“

Die Krankheit ist so selten wie tödlich. Ein wahrer Schrecken: „Die Eltern können nur hilflos zusehen, wie ihre kleinen Kinder langsam sterben“, sagt Prof. Jochen Reiss von der Universität Göttingen und redet von der „Molybdän-Cofaktor-Defizienz“, einem angeborenen Stoffwechselleiden. Nun gibt es für die künftigen Neugeborenen erstmals eine Chance auf Heilung: In Jahre langen Studien haben Reiss und seine Kollegen die Ursache der Erkrankung entdeckt und gemeinsam mit Priv. Doz. Dr. Günter Schwarz von der Technischen Universität Braunschweig eine Therapie im Tierversuch erfolgreich getestet. Eine potenzielle Heilung für eine zuvor tödliche Krankheit – dafür erhalten die Wissenschaftler den „Novartis-Preis für therapierelevante pharmakologische Forschung“.

Kurz nach der Geburt sieht man es ihnen noch nicht an. Doch schon etwa 14 Tage später beginnen die ersten Symptome: Die Babys wachsen nicht so gut wie andere Kinder ihres Alters, vor allem aber werden sie zunehmend von schweren Krämpfen heimgesucht, die kein Arzt der Welt behandeln kann. „Am Ende verkümmern die Nervenzellen des Gehirns“, sagt Reiss – etwa zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr. Grund des Neuronen-Untergangs: Im Körper der Kinder sammelt sich mit jedem Tag mehr ein Stoff namens Sulfit an, der vor allem das Gehirn überflutet und die Nervenzellen zerstört.

Diesem Sulfit-Desaster liegt ein Stoffwechseldefekt zugrunde: die Molybdän-Cofaktor-Defizienz (MCD). Den betroffenen Kindern fehlt der Molybdän-Co-Faktor, kurz Moco genannt – ein kleines organisches Molekül, das sich mit verschiedenen lebenswichtigen Proteinen verbindet, die allesamt das Spurenelement „Molybdän“ enthalten. „Ohne Moco“, sagt der Preisträger, „versagt beispielsweise das Enzym zur Entgiftung von Sulfit.“ Den Cofaktor gentechnologisch zu produzieren, um den Mangel zu ersetzen, ist sinnlos, weil der Stoff ohne Bindung an ein Enzym sekundenschnell zerfällt wie ein Schneeball in der Mikrowelle.

Doch Reiss und Schwarz witterten andere Therapiechancen, als sie nach und nach die Stoffwechsel-Stafette aufklärten, mit der intakte Organismen Moco herstellen. Verblüffend dabei: Bis auf eine Ausnahme gleicht sich dieses Procedere in allen Lebewesen, von Bakterien über Pflanzen bis hin zum Menschen. Drei Schritte führen über diverse Zwischenprodukte zum fertigen Cofaktor. Entsprechend sind verschiedene Gene daran beteiligt, die im Erbgut von weltweit wohl tausend Menschen defekt sind. Ein Drittel der kleinen Patienten trägt ein defektes MOCS2-Gen in den Zellen, das die zweite Produktionsphase steuert. Den Schritt davor lenkt das MOCS1-Gen, das bei zwei Dritteln der kleinen Patienten mutiert ist.

Mit gentechnologischen Mitteln haben die Göttinger Forscher Mäuse mit defektem MOCS1-Gen gezüchtet. „Die Tiere entwickeln exakt die gleichen Symptome wie betroffene Menschen“, sagt Reiss, „und sterben früh.“ Weil die Moco-Synthese in allen Lebewesen übereinstimmt, hatten sie damit ein ideales Modell für die menschliche Krankheit – und für eine mögliche Therapie, die Günter Schwarz beisteuerte. Aus Bakterien isolierte er in reiner Form das Zwischenprodukt aus Phase 1, das die Mäuse – und die meisten Patienten – nicht mehr bilden können. Zweimal wöchentlich injiziert, verwerteten es die Nager weiter zum fertigen Cofaktor. Resultat: „Keinerlei Symptome“, wie der Göttinger Genetiker erklärt, „bis die Tiere eines natürlichen Todes starben.“

Dass die Behandlung menschlichen Kindern das Leben rettet, ist so gut wie sicher. Allerdings gibt es ein Problem: Weil das Leiden mit weltweit etwa 1000 Patienten extrem selten ist, findet sich kein kommerzieller Hersteller. Doch die Eigenproduktion des Therapeutikums in Braunschweig ist aufwändig und würde, so Reiss, „pro Patient jährlich 100.000 bis 200.000 Euro kosten.“ Unter anderem durch eine Spendenaktion haben die Wissenschaftler das Geld jetzt beisammen: „So können wir hoffentlich noch dieses Jahr ein erstes Kind behandeln.“ Es wäre die wahrscheinliche Heilung eines Todgeweihten.

Der „Novartis-Preis für therapierelevante pharmakologische Forschung“ wurde 1992 von der damaligen Sandoz AG Nürnberg und der DGPT (Deutschen Gesellschaft für experimentelle und klinische Pharmakologie und Toxikologie e. V.) ins Leben gerufen. Die aus der Fusion von Sandoz mit Ciba-Geigy hervorgegangene Novartis Pharma GmbH Nürnberg unterstützt seither die Ausschreibung und Vergabe des Preises . Er wird alle zwei Jahre vergeben und ist mit 10.300 Euro dotiert. Ausgezeichnet werden Arbeiten, die eine Brücke schlagen zwischen pharmakologischer Grundlagenforschung und anwendungsorientierter klinischer Forschung. Für die Auswahl der Preisträger zeichnet eine unabhängige Jury, bestehend aus Pharmakologen und Klinikern, verantwortlich.

Über Novartis

Die Novartis AG (NYSE: NVS) ist ein weltweit führendes Unternehmen in den Bereichen Pharmaceuticals und Consumer Health. Im Jahr 2004 erzielte der Konzern einen Umsatz von USD 28,2 Milliarden und einen Reingewinn von USD 5,8 Milliarden. Der Konzern investierte rund USD 4,2 Milliarden in Forschung und Entwicklung. Novartis hat ihren Sitz in Basel (Schweiz). Die Novartis Konzerngesellschaften beschäftigen rund 81 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in über 140 Ländern.

Media Contact

Philipp Kressirer idw

Weitere Informationen:

http://www.novartis.de/

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