Merckle-Forschungspreis 2002

Qubits und Kugelpackungen für die Information, Material für Knochenersatz und Ionenkanaldefekte bei Myotonie

Am 11. November 2002 (16.00 Uhr im Hörsaal der Medizinischen Klinik) verleiht die Universität Ulm zum 21. Mal den mit 20.000 ? dotierten Merckle-Forschungspreis.

Preisträger sind PD Dr. Matthias Freyberger (Quantenmechanische Informationsverarbeitung), PD Dr. Anita Ignatius (Materialien für die Knochendefektauffüllung), PD Dr. Holger Lerche (Ionenkanaldefekte bei Myotonie und Epilepsie) und Prof. Dr. Gabriele Nebe (Hochdimensionale Kugelpackungen in der Informationsübertragung).

Vom Bit zum Qubit

Vor rund fünfzig Jahren entwarf Claude Shannon die Grundlagen der modernen Informationstechnologie. Sein »Bit« (von »binary digit«) wurde die elmentare Einheit klassischer Information, und jedes Kind lernt heute, wie ein digitaler Computer mit »0« und »1« rechnet oder kommuniziert. Information ist zu einer enorm wertvollen Ressource geworden. Milliarden von Bits lassen sich auf daumennagelgroßen Mikrochips unterbringen.

Aber die Jahre dieser Miniaturisierung sind gezählt. Das derzeitige Wachstum vorausgesetzt, wird Shannons Bit im Jahr 2020 nur noch durch ein einzelnes Molekül oder gar Atom repräsentiert werden. Um dann die Verarbeitung von Information auf dieser Größenskala noch zu verstehen, braucht man die Gesetze der Mikrowelt, konkret der Quantenphysik. Und die eröffnet neue, faszinierende Perspektiven, die der britische Physiker David Deutsch in den 80er Jahren erstmals klar erkannt hat. Bedingung ist, daß das klassische Bit durch das sogenannte »Quanten-Bit«, kurz »Qubit«, ersetzt wird. Das ist dann weder »0« noch »1«, sondern eine Überlagerung beider Zahlen mit jeweils vorgebbaren Anteilen. So ein Qubit kann schon auf einem einzelnen Elektron oder einem einzelnen Photon gespeichert werden, und es läßt sich äußerst effizient mit anderen Qubits koppeln.

Diese winzige Informationseinheit hat aber auch ihre mikrophysikalischen Tücken. Die Quantenphysik verbietet es, ein einzelnes Qubit exakt zu identifizieren. Matthias Freyberger und Arbeitsgruppe haben Methoden entwickelt, wie gleichwohl der Zustand mehrerer identischer Qubits erfaßt und beschrieben werden kann. Schritt für Schritt werden die quantenmechanischen Informationspakete dabei gelesen und jeder Leseschritt an das zuvor Gelernte angepaßt und optimiert. Darüber hinaus müssen vollkommen neue Wege beschritten werden, um die angesprochene Kopplung der Qubits zu realisieren und zu kontrollieren. Auch an diesen Fragestellungen hat Freyberger intensiv gearbeitet und entprechende Vorschläge gemacht.

Materialien für den Knochenersatz

In der Unfallchirurgie und Orthopädie werden Knochenersatzmaterialien benötigt, um Knochendefekte aufzufüllen, die aufgrund ihrer Größe ansonsten nicht heilen können. Diese Substanzverluste können angeboren, durch einen Unfall oder eine Infektion verursacht oder durch die Resektion von Tumoren bedingt sein. Häufig werden Knochendefekte mit körpereigenem Knochen behandelt, der dem Patienten entnommen und in den Defekt transplantiert wird. Körpereigene Transplantate haben eine hohe biologische Wertigkeit. Allerdings müssen sie in einer zweiten Operation gewonnen werden und stehen nur in begrenztem Umfang zur Verfügung. Eine Alternative besteht in Knochen von Organspendern. Dafür muß jedoch eine aufwendige Knochenbank geführt werden. Zudem verbindet sich hiermit das Risiko immunologischer Reaktionen sowie der Übertragung von Infektionen.

Synthetische Knochenersatzmaterialien stehen in ausreichender Menge zur Verfügung. Ein Infektionsrisiko bergen sie nicht. Sie lassen sich entweder direkt in Knochendefekte implantieren oder dienen als Zellträger für das sogenannte Tissue Engineering, die Züchtung von Knochengewebe in vitro. Die Anforderungen an derartige Materialien sind sehr hoch. Neben guter biologischer Verträglichkeit sollen sie innerhalb angemessener Zeit im Körper abgebaut werden, damit der ursprüngliche Knochen wiederhergestellt werden kann. Weiterhin sollen ihre mechanischen Eigenschaften den Einsatz in belasteten Defektbereichen erlauben. Die bisher verfügbaren Materialien erfüllen diese Anforderungen nur ungenügend. Ihre Nachteile liegen vor allem in den langen Abbauzeiten und den unbefriedigenden mechanischen Eigenschaften.

Ziel eines Kooperationsprojektes von Dr. Ignatius mit der Firma Biovision GmbH, Ilmenau, waren demgemäß Knochenersatzmaterialien, die bei guter Gewebeverträglichkeit eine verbesserte Abbaucharakteristik und deutlich verbesserte mechanische Eigenschaften haben. Diese Qualitäten erwartete man von Kompositmaterialien aus abbaubaren Keramiken und Kunststoffen. Insbesondere sollten schnell resorbierbare Glaskeramiken auf der Basis von Kalziumalkaliorthophosphaten eine lange Persistenz des Materials im Knochen vermeiden. Von der Zähigkeit und Elastizität des Polymers versprach man sich eine Verminderung der Sprödigkeit der Keramiken. Gleichzeitig sollten die neuen Materialien eine hohe Porosität besitzen, um das Einwachsen von Knochen zu ermöglichen und die Menge an implantiertem Fremdmaterial zu minimieren.

Tatsächlich ist es der Kooperation gelungen, hochporöse Kompositmaterialien aus Polylactiden und resorbierbaren Glaskeramiken herzustellen, deren mechanische Eigenschaften in der Größenordnung des menschlichen trabekulären Knochens liegen und den bisherigen rein keramischen Materialien deutlich überlegen sind. Diese Komposite zeigten in umfangreichen Zellkulturstudien eine gute Biokompatibilität. Sie werden kontinuierlich in einer der Knochenheilung äquivalenten Zeit abgebaut. In einer abschließenden tierexperimentellen Studie traten allerdings unerwünschte Gewebereaktionen auf. Daher sind die neuen Materialien in der vorliegenden Form noch nicht für den klinischen Einsatz geeignet. Derzeit wird an einer Verbesserung der Gewebeverträglichkeit gearbeitet. Wenn es gelingt, die Verträglichkeit zu optimieren, stehen poröse Knochenersatzmaterialien zur Verfügung, die auch in belasteten Knochendefekten eingesetzt werden können und bei kontinuierlichem Abbau die vollständige Regeneration des körpereigenen Knochens ermöglichen. Diese Materialien könnten dann auch als Zellträger für das Tissue Engineering von Knochengewebe verwendet werden.

Kugeln im 1.250.172.000er-Pack

Prof. Dr. Gabriele Nebe arbeitet in der Abteilung Reine Mathematik, ihr Spezialgebiet sind Symmetrien und Kugelpackungen. In der Nachrichtentechnik haben ihre Resultate bereits mehrfach Bedeutung erlangt. Kugelpackungen entstehen, wenn man gleichgroße Kreise in der Ebene so anordnet, daß jeder Kreis von sechs anderen berührt wird. Die Mittelpunkte der Kreise, die einen festen Kreis berühren, bilden dabei ein regelmäßiges Sechseck. Schon im 17. Jahrhundert zeigte der Mathematiker Legendre, daß diese (hexagonale) Kugelpackung die dichteste Packung in der Ebene ist. Nebe sucht solche Kugelpackungen in höheren Dimensionen. Dabei hält sie einige Rekorde, unter anderem für die Dimensionen 48, 56, 64 und 80. In der 48dimensionalen Packung berühren 52.416.000 gleichgroße Kugeln eine ebensogroße weitere Kugel, in Dimension 80 sind es sogar 1.250.172.000 – Zahlen, die nicht das Erbsenzählwerk eines Computers sind, sondern weitaus eleganter aus theoretischen Überlegungen geschlossen werden können. Nebes Haupthilfsmittel zur Konstruktion dichter Packungen sind Symmetrien. Die hexagonale Packung beispielsweise ist die einzige regelmäßige Kugelpackung in der Ebene, die eine Drehung um 120 Grad als Symmetrie zuläßt. Auch die oben erwähnten Rekordpackungen sind sämtlich hochsymmetrisch.

Anwendung finden solche Konstrukte in der Informationsübertragung. Jedes Signal läßt sich nämlich als Punkt in einem hochdimensionalen Raum auffassen. Eine exakte Übertragung solcher Einzelpunkte ist unter normalen Bedingungen nahezu unmöglich. Sehr viel eher gelingt es, ganze Kugelpackungen zu senden, deren Mittelpunkte die Information enthalten. Zum Dekodieren muß man dann nur noch den Mittelpunkt der Kugel finden, in der das empfangene Signal liegt. Dichte Kugelpackungen haben sehr gute fehlerkorrigierende Eigenschaften. So kann bei gleicher Energie und Fehlerkorrektur mit Nebes Rekord-Kugeln im Vergleich zur üblichen würfelförmigen Anordnung ein Vielfaches an Information übertragen werden.

Symmetriephänomene spielen auch außerhalb der Mathematik, zum Beispiel in den Naturwissenschaften, in Architektur und Kunst, eine wichtige Rolle. Mathematisch gesehen bilden die Symmetrien eines Objektes eine »Gruppe«. Eine interessantes Problem ist die Bestimmung aller möglichen Objekte, also beispielsweise aller regelmäßigen Kugelpackungen in beliebigen Dimensionen, welche die gleiche Gruppe von Symmetrien aufweisen. Darüber existieren viele offene Vermutungen, die bisher nur für sehr spezielle Beispiele getestet wurden. Das Berechnen weiterer Beispiele kann einerseits Gegenbeispiele produzieren, andererseits auch neue Regelmäßigkeiten offenlegen, die als Wegweiser zum Beweis einiger Vermutungen dienen können. In ihrer Habilitationsschrift entwickelte Nebe ein Verfahren, mit dem sich für bestimmte Gruppen sehr einfach alle passenden Symmetrien ermitteln lassen.

Ionenkanäle sind membranständige Eiweißmoleküle (Proteine), die selektive Poren für Natrium, Kalium, Kalzium oder Chloridionen ausbilden. Ihr Öffnen und Schließen wird über die Membranspannung oder durch extra- oder intrazelluläre Botenstoffe gesteuert. Sie bilden die Grundlage für die Erregbarkeit von Nerven- und Muskelzellen. Spannungsgesteuerte Natrium- und Kaliumkanäle sind für die Entstehung und Fortleitung des Aktionspotentials verantwortlich, also für die Nachrichtenübermittlung entlang einer Zelle, während neurotransmittergesteuerte Rezeptoren die synaptische Übertragung, also die Kommunikation zwischen Zellen, vermitteln. Auf dieser grundlegenden Bedeutung von Ionenkanälen beruht die pathophysiologische Analyse, wonach Erbkrankheiten, die durch eine Über- oder Untererregbarkeit von Nerven- oder Muskelzellen gekennzeichnet sind, durch Mutationen in Ionenkanalgenen hervorgerufen werden. Diese heterogene Gruppe von Erbkrankheiten wurde in den letzten 10-15 Jahren entdeckt, in den Krankheitsmechanismen aufgeklärt und mit dem Begriff der »Kanalkrankheiten« belegt.

Die ersten Ionenkanalerkrankungen fand man in der Skelettmuskulatur. Es handelt sich um die sogenannten Myotonien und periodischen Paralysen. Bei einer Form der Myotonie liegen Mutationen im Gen des spannungsgesteuerten Natriumkanals vor. Sie führen dazu, daß der Kanal nach einer raschen und kurzen Öffnung (der Aktivierung) nicht mehr richtig schließt (unvollständige Inaktivierung). Dies führt zu einem vermehrten Natriumeinstrom in die Muskelzellen, der die Zellmembran depolarisiert und dadurch die Erregbarkeit steigert, wodurch Aktionspotentiale spontan ausgelöst werden können. Die Folge sind durch Bewegung oder Beklopfen bewirkte Muskelkontraktionen, die sich für die Patienten als ein Steifigkeitsgefühl bis hin zur vorübergehenden Unbeweglichkeit äußern. Bei sehr starker Ausprägung kann es auch zu Störungen der Atmung kommen. Dr. Lerche hat in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Frank Lehmann-Horn (Leiter der Abteilung Angewandte Physiologie) wesentliche Beiträge zur Aufklärung des Krankheitsmechanismus der Natriumkanalerkrankungen geleistet. Er hat vor allem die Störungen verschiedener Myotonieformen auf Kanalebene – sowohl in entnommenem Muskelgewebe von Patienten als auch in künstlichen Expressionssystemen – beschrieben und diese Ergebnisse untereinander und mit der klinischen Ausprägung korreliert. Dabei konnte eine neue Form der Myotonie abgegrenzt werden. Auch ergaben sich Genotyp-Phänotyp-Beziehungen, bei denen der klinische Schweregrad mit dem der Funktionsstörung des Kanals korrelierte.

Andere Natriumkanalgene werden im Gehirn exprimiert und sind dort für die Erregbarkeit von Nervenzellen verantwortlich. Bei Patienten mit erblichen Formen von Epilepsie wurden Mutationen in diesen Genen gefunden. Die ersten Untersuchungen zum Krankheitsmechanismus dieser Epilepsieformen sind von Lerche durchgeführt worden. Sie deuten darauf hin, daß es sich anders als bei den Myotonien um eine verstärkte Inaktivierung des Kanals und damit einen Funktionsverlust handelt. Bei epileptischen Anfällen wären dann hemmende Neurone vermindert aktiv, wodurch die erregenden Neurone überaktiv werden. Die Hypothese eines Funktionsverlustes des Natriumkanals durch Mutationen wird dadurch gestärkt, daß bei einer schwer verlaufenden Variante dieser Erkrankung Mutationen, die das Protein zerstören, in demselben Gen gefunden wurden und im übrigen ein Antiepileptikum, das Natriumkanäle blockiert, die Anfälle verstärken kann.

Bei einer anderen Form der Epilepsie, den gutartigen familiären Neugeborenenkrämpfen, wurden Mutationen in einem Kaliumkanal gefunden, die zu einem verminderten Kaliumausstrom aus den betroffenen Nervenzellen führen. Lerche et al. beschrieben das klinische Bild, eine neue Mutation und den Krankheitsmechanismus in einer großen betroffenen Familie. Durch den verminderten Kaliumstrom wird die Beendigung, die sogenannte Repolarisation, eines erregenden Aktionspotentials verzögert, so daß neue Aktionspotentiale entstehen können – ein anderer Mechanismus, der zu Übererregbarkeit führt. Ein neues Medikament, Retigabin, das derzeit klinisch erprobt wird, aktiviert diese Kanäle und stabilisiert dadurch die Zellmembran, bewirkt also das Gegenteil der Mutationen. Durch die Aufklärung des genetischen Defektes der Neugeborenenkrämpfe wurde somit ein völlig neuer Wirkmechanismus für Antiepileptika entdeckt, der auf eine sehr wirksame neue Therapie hoffen läßt.

Peter Pietschmann
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