Zellkulturen aus dem Automaten

Das menschliche Genom ist entschlüsselt. Doch von den Rätseln, die in ihm stecken, bleiben weiterhin viele ungelöst: Das Genom liefert den Bauplan für verschiedene Proteine, die Bausteine jeder Zelle. Doch welche Aufgabe übernehmen sie? Welche Proteine beispielsweise steuern die Zellteilung im gesunden Körper? Und was geschieht im Tumorgewebe, in dem sich die Zellen unaufhörlich teilen und wo diese Proteinsteuerung aus dem Ruder gelaufen ist? Die jeweiligen Aufgaben der Proteine zu kennen und systematisch zu analysieren, ist der Schlüssel dafür, Erbkrankheiten und Krebs besser verstehen und geeignete Medikamente entwickeln zu können.

Um der Funktion der verschiedenen Proteine auf die Schliche zu kommen, legen die Forscher zunächst Zellkulturen an. Dazu geben sie einige Zellen in eine Petrischale, geben Nährmedium hinzu und untersuchen regelmäßig, wie die Zellen gewachsen sind. Haben sich geeignete Zellkolonien ausgebildet, setzt der Forscher diese mit einer Pipette in ein neues Gefäß, um sie weiter zu untersuchen. Bislang führen die Wissenschaftler diese Arbeiten überwiegend per Hand aus – eine zeitaufwändige Routinearbeit. Forscher der Fraunhofer-Institute für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart, für Physikalische Messtechnik IPM in Freiburg und für Angewandte Informationstechnik FIT in Sankt Augustin haben nun gemeinsam mit den Kollegen des Max-Planck-Instituts für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden ein System aufgebaut, das die Zellen vollautomatisch kultiviert, untersucht und alle Schritte genau dokumentiert.

Das Gerät besteht aus verschiedenen Modulen: Eines davon ist ein Roboter, der die einzelnen Gefäße, Mikrotiterplatten genannt, mit den Zellkulturen von einer Station zur nächsten transportiert. »Ein Mikroskop untersucht die Zellen regelmäßig, um ihr Wachstum und ihren Zustand zu beurteilen«, erläutert Dr. Albrecht Brandenburg, Gruppenleiter am IPM, ein weiteres Modul. »Es überführt die Mikrotiterplatten auf den Mikroskoptisch, fokussiert, wechselt die Objektive und steuert die Lichtquellen an.«

Hier im Mikroskop herrschen wie in den »Lagerräumen«, den Inkubatoren, die Bedingungen, die Zellen zum Wachstum brauchen: eine Temperatur von 37 Grad Celsius, bis zu 90 Prozent relative Luftfeuchtigkeit und fünf Prozent CO2-Gehalt. Die Zellkultur kann also permanent überwacht werden, ohne dass sie aus den idealen Bedingungen entfernt werden muss. Damit das Optikmodul der hohen Luftfeuchtigkeit standhält, ist das gesamte optische System für den Betrieb in dieser Umgebung ausgelegt.

Die Ergebnisse der mikroskopischen Analyse fließen in die Systemsteuerung ein, das ist bislang einzigartig in der automatisierten Zellkultivierung. In einem ersten Schritt wertet eine Software dafür die Mikroskop-Aufnahmen aus: Wie stark ist die Oberfläche des Gefäßes bereits mit Zellen bedeckt? Welche Form haben die Zellen? Sind es die gewünschten Zellen oder haben sich ungewünschte Zelltypen entwickelt? Die Software, welche diese Mustererkennung vornimmt und damit die Zellen als solche erkennt, kann von den jeweiligen Anwendern des Systems trainiert werden: Bei neuen Zelltypen lassen sich Beispielareale für Vorder- und Hintergrund definieren. In den weiteren Arbeitsabläufen erkennt das System den jeweiligen Zelltyp dann automatisch. Anhand dieser Auswertungen nimmt das System die nächsten Schritte vor.

Ist die Oberfläche noch nicht genügend bedeckt, wird die Mikrotiterplatte wieder in den Lagerinkubator geschoben, damit die Zellen weiter wachsen können. Bei Bedarf tauscht das System auch das Nährmedium aus. Haben sich dagegen geeignete Zellkolonien gebildet, nimmt ein weiteres Modul, ein Picking-Arm mit einer Hohlnadel, die Zellen in einem Bereich von 100 bis 200 Mikrometern auf und überführt sie in ein neues Gefäß. Hier werden sie dann weiter kultiviert und gezüchtet. Die Position des Zellareals, das man umsiedeln will, wird vom Mikroskop an dieses Picking-Modul übertragen. Ein kleines Durchlicht-Mikroskop, das am Picking-Arm angebracht ist, sorgt dafür, dass die angegebene Position eingehalten wird und nur die richtigen Zellen umgesiedelt werden. Weiterhin überprüft es, ob die Zellen intakt im neuen Gefäß angekommen sind.

Sollen nicht nur einzelne Kolonien umgesiedelt werden, sondern alle Zellen aus dem Gefäß gelöst und auf verschiedene weitere Wells transferiert werden – etwa, weil der gesamte Boden mit Zellen bedeckt ist und die Zellen mehr Platz brauchen –, kommt ein weiteres Modul zum Einsatz: das Liquid-Handling-Modul. Seine Aufgabe ist es, über vier bis acht Nadeln Flüssigkeiten auszutauschen und genau zu dosieren. Um die Zellen in verschiedene andere Wells zu überführen, gibt das Modul über eine seiner Nadeln zunächst eine chemische Lösung in das Gefäß: Sie löst die Zellen vom Boden ab, diese schwimmen nun im flüssigen Nährmedium. Eine weitere Nadel saugt eine gewisse Menge des Nährmediums samt Zellen ab, fährt über ein leeres Well und füllt die Flüssigkeit hinein. Dieser Vorgang wird solange wiederholt, bis die Flüssigkeit und damit alle Zellen auf die verschiedenen Wells verteilt sind. Auch für den Austausch des Nährmediums und das Sterilisieren der Wells ist das Liquid-Handling-Modul zuständig. Da es bis zu acht Nadeln besitzt, kann es mehrere Wells gleichzeitig bearbeiten.

Pro Monat 500 neue Zellkulturen

Seit Kurzem steht der Zellkultur-Automat, der ein kleines Labor füllt, beim Max-Planck-Institut. Hier soll er den Forschern helfen, die Funktionen verschiedener Proteine zu entschlüsseln. Dazu bringen die Wissenschaftler den Abschnitt des menschlichen Genoms in die Zellen ein, der den Bauplan für die zu untersuchenden Proteine liefert. Zudem sorgt das eingeschleuste Erbgut, die DNA, dafür, dass das entstehende Protein fluoresziert. Die Stelle in der Zelle, an der die Proteine später zu finden sind – also der Ort, an dem das Fluoreszenzlicht des Proteins zu sehen ist –, verrät den Forschern einiges über die jeweilige Funktion der Proteine. Die Wissenschaftler untersuchen dabei vor allem diejenigen Proteine, die für die Zellteilung zuständig sind. So hoffen sie, besser zu verstehen, was für das Wachstum von Tumoren verantwortlich ist. Der Durchsatz, den das System schafft, ist deutlich größer als der, den man mit herkömmlichen manuellen Methoden erreichen könnte: Pro Monat züchtet es 500 Zellkulturen.

Die Zellfabrik kann auch an andere Anwendungen angepasst werden: Sie hilft beispielsweise dabei, die Wirksamkeit unterschiedlicher Medikamente zu testen. Dazu geben die Pharmakologen den zu untersuchenden Wirkstoff auf bestimmte Zellkulturen. Wie wirken verschiedene Medikamente auf die Kulturen? Mit der Zellfabrik können die Pharmakologen nicht nur den Durchsatz solcher Screenings verbessern, sondern auch die Standardisierung und die Dokumentation. Da das System modular aufgebaut ist, können Forscher in Industrie und Wissenschaft dieses System ihrem individuellen Bedarf anpassen.

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