Zeitraffer-Mikroskopie zeigt wie Gewebe ihre Gestalt annehmen

Mechanische Kräfte führen zur Faltenbildung von Geweben. Das Bild zeigt ein Flügelscheibenepithel der Taufliege, in dem mehrere Falten ausgebildet sind. Dr. Liyuan Sui

Während der Embryonalentwicklung von Mensch und Tier verändern Gewebe ihre Gestalt, um ihre charakteristische, funktionale Form anzunehmen und um Organe auszubilden. Die darin zugrundeliegenden Mechanismen zählen bislang noch zu den großen Geheimnissen des Lebens, deren Ergründung sich Forscher auf der ganzen Welt widmen.

Einem interdisziplinären Forscherteam um den Biologen Prof. Christian Dahmann von der TU Dresden ist es in einer neuen Studie gelungen, zwei der zellulären Mechanismen zur Gestaltbildung von Geweben zu entschlüsseln. Die Studie wird am 5. November 2018 im Online-Fachjournal Nature Communications veröffentlicht.

Eine in der Embryonalentwicklung häufig vorkommende Gestaltänderung betrifft die sogenannten Epithelgewebe. Diese Gewebe falten sich oder bilden Röhren aus, Vorgänge die zum Beispiel bei der Ausbildung des Gehirns oder der Entwicklung des Darms bedeutend sind.

Die Gestaltänderung von Epithelgeweben beruht auf der Änderung der Form oder der Anordnung von Zellen innerhalb des Gewebes. Es ist bekannt, dass die Formveränderungen von Zellen auf der Ausbildung von mechanischen Kräften beruht. Allerdings weiß man nur wenig darüber, wie Zellen mechanische Kräfte generieren und wo in der Zelle diese Kräfte wirken.

Das Team um Prof. Dahmann analysierte die Faltung von Epithelgeweben in der Taufliege Drosophila, einem bedeutenden Modellorganismus der Entwicklungsbiologie. Der Flügel der Taufliege bildet sich aus einem einfachen Gewebe, dem Flügelscheibenepithel, aus.

Dieses Gewebe ist zunächst flach und eben, faltet sich dann aber während der Entwicklung entlang von bestimmten Linien. Das Forscherteam hat eine Methode entwickelt, um die Faltenbildung des Flügelscheibenepithels durch Zeitraffer-Mikroskopie zu verfolgen.

Die gewonnenen Bilddaten wurden genutzt, um die Dimensionen einzelner Zellen, die Teil der Falte waren, über die Zeit hinweg zu bestimmen. Dabei konnte man erkennen, dass sich die Zellen auf der nach unten gerichteten (sogenannten basalen Oberfläche) des Gewebes ausdehnten.

Wie war diese Ausdehnung möglich? Um dieser Frage nachzugehen, maßen die Wissenschaftler die mechanischen Kräfte, die auf diese Zellen einwirkten. Dazu durchtrennten die Biologen einzelne Verbindungen zwischen Zellen mit Laserlicht und bestimmten die Geschwindigkeit mit der benachbarte Zellen auseinanderwichen.

Dabei wurde deutlich, dass Zellen, die ihre basale Oberfläche ausdehnten, dort eine verringerte mechanische Spannung aufwiesen. Die Forscher erkannten erstmals, dass die verringerte basale mechanische Spannung durch einen teilweisen Abbau der Basallamina, einer extrazellulären Proteinschicht, auf der die Zellen ‚sitzen’, verursacht wurde. Dieser Prozess treibt die Faltenbildung an. Mithilfe von Computersimulation konnte dieses neue Modell gestützt werden.

„Unsere Arbeiten lege nahe, dass der Basallamina von Epithelien eine bedeutende Funktion bei der Ausbildung oder Aufrechterhaltung mechanischer Spannung von Zellen zukommt und, dass Änderungen der Basallamina wesentlich zur Gestaltänderung von Epithelien beitragen können“, kommentiert Prof. Dahmann.

„Wie die Basallamina mechanische Kräfte aufbaut und wie die Basallamina spezifisch unter den Zellen, die die Falte bilden, verringert wird, sind Fragen, die in Zukunft beantwortet werden müssen.“

Die Untersuchung der Zellen bei der Ausbildung einer zweiten Falte innerhalb des Flügelscheibenepithels ergab ebenfalls Erstaunliches: Zwar weiteten sich die Zellen auch dabei basal, allerdings blieben die Kräfte, die auf die basale Oberfläche der Zellen wirkten, unverändert.

Die aktuellen Messungen ergaben, dass bei diesen Zellen die Spannung entlang der seitlichen Oberfläche zwischen benachbarten Zellen erhöht war. Diese erhöhte seitliche mechanische Spannung wurde durch die Anreicherung des molekularen Motorproteins Myosin erreicht. Sie führte dazu, dass Zellen sich entlang ihrer apikal-basalen Achse verkürzten, was wiederum zur Faltenbildung führte.

Wie es zu der Anreicherung von Myosin kommt und ob man die Studie zur Gestaltbildung von Gewebe auf Wirbeltiere übertragen kann, wollen die Forscher in den kommenden Jahren klären.

Prof. Dr. Christian Dahmann
Professur für Systembiologie und Genetik
Tel.: +49 351 463-39537
E-Mail: christian.dahmann@tu-dresden.de

Liyuan Sui, Silvanus Alt, Martin Weigert, Natalie Dye, Suzanne Eaton, Florian Jug, Eugene W. Myers, Frank Jülicher, Guillaume Salbreux und Christian Dahmann. “Differential lateral and basal tension drive folding of Drosophila wing discs through two distinct mechanisms”.

http://dx.doi.org/10.1038/s41467-018-06497-3

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Kim-Astrid Magister idw - Informationsdienst Wissenschaft

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