Wie erkennt das Gehirn Gesichter?

Unser Gehirn erkennt in Millisekunden Objekte, sogar, wenn es nur rudimentäre optische Informationen erhält. Forscher vermuten, dass die verlässliche und schnelle Erkennung gelingt, indem das Gehirn ständig Vorhersagen über Objekte im Gesichtsfeld trifft und diese mit den hereinkommenden Informationen abgleicht.

Nur wenn dabei Fehler auftreten, müssen höhere Hirnregionen benachrichtigt werden, um aktiv ihre Vorhersagen anzupassen. Wissenschaftler der Goethe-Universität haben diese Vermutung jetzt bestätigt.

Wie sie in der aktuellen Ausgabe des „Journal of Neuroscience“ berichten, haben sie im Falle eines Vorhersagefehlers die Verstärkung von solchen Hirnwellen identifiziert, die an höhere Hirnareale gesendet werden. Diese Ergebnisse versprechen auch ein besseres Verständnis der psychischen Erkrankungen Schizophrenie und der Autismus-Spektrum-Störung.

Um Vorhersagefehler bei ihren Probanden zu provozieren, zeigten die Forscher ihnen sogenannte Mooney Gesichter, benannt nach ihrem Erfinder Craig Mooney. Das sind Fotos von Gesichtern, die ganz auf schwarze und weiße Flächen reduziert sind.

Diese erkennen wir meist mühelos. Wir können sogar Angaben über Geschlecht, Alter und Gesichtsausdruck machen – obwohl lediglich der Verlauf der schwarz-weißen Grenze ein wenig Information über das Gesicht enthält. Und selbst diese minimale Information ist zweideutig, denn die Grenzen stellen entweder Übergänge zwischen Licht und Schatten dar oder sie begrenzen das Objekt selbst.

„In unserer Studie benutzten wir Mooney Gesichter, die gezielt zwei Erwartungen enttäuschten: erstens, dass wir Gesichter immer aufrecht sehen, und zweitens, dass Licht von oben einfällt. Dadurch hat sich die Gesichtserkennungs-Leistung deutlich verschlechtert und verlangsamt“, erklärt Prof. Michael Wibral vom Brain Imaging Center der Goethe-Universität.

Was passiert in diesem Fall im Gehirn? Eine aktuelle Theorie, die „Predictive Coding“-Theorie, besagt, dass Signale nur zur Verarbeitung in höhere Hirnregionen gesendet werden müssen, wenn Vorhersagen nicht erfüllt sind. Es müssten also verstärkte Signale in Richtung höherer Hirnregionen auftreten. Es gibt jedoch auch konkurrierende Theorien, die genau das Gegenteil vorhersagen.

Ein direkter Test der Theorie wurde erst kürzlich möglich, als Frankfurter Wissenschaftler vom Strüngmann-Institut entdeckten, dass Hirnwellen mit etwa 90 Schwingungen pro Sekunde bevorzugt auftreten, wenn höhere Areale des Gehirns adressiert werden.

„Wenn ein Vorhersagefehler provoziert wird, indem wir Bilder erzeugen, die lebenslang gelernten visuellen Alltagswahrheiten widersprechen, sollten wir die fehlerspezifischen Hirnwellen mit etwa 90 Schwingungen pro Sekunde vermehrt sehen. Das konnten wir experimentell bestätigen“, erklärt Wibral.

„Schließlich konnten wir auch zeigen, dass die ‚Fehlerhirnwellen‘ umso stärker sind, je langsamer das Erkennen ist. Dies zeigt, dass diese Hirnwellen nicht nur eine Korrektur einleiten, sondern ursächlich an unserer Wahrnehmung beteiligt sind”, so Wibral weiter.

Die Ergebnisse sind bedeutsam, weil gerade diese Hirnwellen auch bei Patienten mit Schizophrenie und Autismus Spektrum Störung deutlich beeinträchtigt erscheinen. Das haben Messungen der vergangenen Jahre im Labor des Frankfurter Brain Imaging Centers gezeigt. Die Forscher erhoffen sich nun, beide Erkrankungen besser zu verstehen und Möglichkeiten zu finden, Patienten dabei zu helfen, ihre fehlerhaften Vorhersagen besser anzupassen.

Publikation:
Alla Brodski, Georg-Friedrich Paasch, Saskia Helbling, and Michael Wibral: The Faces of Predictive Coding, in: Journal of Neuroscience, 17 Juni 2015 • 35(24):8997–9006 • 8997, DOI: 10.1523/JNEUROSCI.1529-14.2015;

Ein Bild zum Download finden Sie hier: http://www.uni-frankfurt.de/56080403

Bildtext: Bei der Gesichtserkennung geht das Gehirn davon aus, dass der Lichteinfall von oben kommt und das Gesicht aufrecht ist (UPTP). Diese Erwartungen haben die Forscher enttäuscht durch Lichteinfall von unten (UPBT), einen invertierten Kopf (INTP) und ein invertiertes Bild mit Lichteinfall von unten (INBT). Das letzte Bild ist ein Kontroll-Stimulus, in dem die Gesichtselemente verschoben wurden.

Informationen: Prof. Michael Wibral, MEG Labor, Brain Imaging Center, Klinikum der Goethe Universität, Tel.: (069) 6301 83193, wibral[at]bic.uni-frankfurt.de.

Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt. 1914 gegründet mit rein privaten Mitteln von freiheitlich orientierten Frankfurter Bürgerinnen und Bürgern fühlt sie sich als Bürgeruniversität bis heute dem Motto „Wissenschaft für die Gesellschaft“ in Forschung und Lehre verpflichtet. Viele der Frauen und Männer der ersten Stunde waren jüdische Stifter. In den letzten 100 Jahren hat die Goethe-Universität Pionierleistungen erbracht auf den Feldern der Sozial-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, Chemie, Quantenphysik, Hirnforschung und Arbeitsrecht. Am 1. Januar 2008 gewann sie mit der Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln als Stiftungsuniversität ein einzigartiges Maß an Eigenständigkeit. Heute ist sie eine der zehn drittmittelstärksten und drei größten Universitäten Deutschlands mit drei Exzellenzclustern in Medizin, Lebenswissenschaften sowie Geisteswissenschaften.“

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