Der Ursprung der Wirbeltiere

Über 50 Wissenschaftler aus fast 40 Laboren weltweit nahmen an einem Genomprojekt teil, das im Genom des Meeresneunauges (Petromyzon marinus) nach evolutionären Spuren der gemeinsamen Abstammung mit den Wirbeltieren mit Kiefern suchte.

Auf deutscher Seite waren Dr. Shigehiro Kuraku und die Doktorandin Tereza Manousaki aus dem Labor des Konstanzer Biologen Prof. Axel Meyer beteiligt. Die Veröffentlichung wird am 24. Februar 2013 online in „Nature Genetics“ erscheinen.

Das Bundesamt für Naturschutz ernannte das Neunauge zum „Fisch des Jahres 2012“. Allerdings sind Neunaugen keine wirklichen Fische. Obwohl sie im Wasser leben, Flossen haben, über Kiemen atmen und in vielerlei Hinsicht wie Fische aussehen, sind sie evolutionär mit „modernen Fischen“ wie einem Lachs oder Aal genauso weit entfernt verwandt wie mit den Menschen. Neunaugen werden zwar, wie auch der Mensch, zu den Wirbeltieren gezählt, sind aber schon vor 500 Millionen Jahren vom evolutionären Ast, der schließlich zu den Landwirbeltieren und auch modernen Fischen führte, abgezweigt.

Neunaugen werden so genannt, weil sie von der Seite aus gesehen neun Augen zu haben scheinen. Zu sehen sind die sieben augengroßen lochartigen Kiemenöffnungen und ein Auge auf jeder Seite – daher ihr Name „Neunauge“. Hinzukommt die einzige mittige Nasenöffnung. Neunaugen sind parasitär lebende, fischartige Tiere, die auf den ersten Blick wie Aale aussehen. Ihr fehlender Kiefer wird von einer runden Saugscheibe ersetzt, die mit hornartigen Zähnen und einer Raspelzunge bewehrt ist. Die Rundmäuler saugen sich damit an Fischen fest. Die bis zu einem Meter langen Parasiten ernähren sich so, wie Aliens aus einem Hollywoodfilm entsprungen, vom Blut und den Körpersäften ihrer Fischopfer.

Trotz einer Milliarde Jahre separater Evolution werden Neunaugen zu den Wirbeltieren gezählt, weil auch sie schon eine Reihe von Wirbeltiermerkmalen besitzen, wie zum Beispiel ein Skelett aus Knorpel und eine Gehirnkapsel mit einem dreigeteilten Gehirn. Neunaugen besitzen aber auch viele sehr ursprüngliche Charakteristiken, wie etwa ein Kiemenskelett aus sieben Kiemenbögen, und sie haben noch keine Kiefer, mit denen sie beißen könnten. Der Kiefer des Menschen und auch die Knöchelchen des menschlichen Mittelohrs sind evolutionär aus je einem dieser ursprünglichen Kiemenbögen der Neunaugenverwandten entstanden.

Die Genomdaten dieses aus evolutionsbiologischer Sicht sehr wichtigen Genoms des Neunauges zeigen nun, dass schon vor dem Abzweigen der Rundmäuler das Genom zweifach komplett verdoppelt wurde. Die Neunaugen haben schon etwa 26.000 Gene, ähnlich viele wie das Genom des Menschen. Das Neuaugengenom zeigt auch, dass die grundsätzliche Architektur des Wirbeltiergenoms schon sehr früh in der Evolution angelegt wurde. So ist die Reihenfolge der duplizierten Gene bemerkenswert konstant geblieben. Obwohl die Anzahl von Genen typisch ist für die Genome von Wirbeltieren, unterscheiden sich Neunaugen doch durch andere Aspekte ihres Genoms wie dem besonders hohen, 46prozentigen Anteil von G- und C-Nukleotiden, die auch eine sehr ungewöhnliche Nutzung von Codons für bestimmte Aminosäuren bedingen.

Weitere Analysen zeigen, dass der gemeinsame Vorfahre der Neunaugen und aller anderen Wirbeltiere wahrscheinlich schon vor 500 Millionen Jahren viele der genetischen Grundlagen der modernen Wirbeltiere hatte. Aus diesen Grundlagen entstanden dann beispielsweise Kiefer, myelinisierte Axone im Nervensystem, ein adaptives Immunsystem und paarige Gliedmaßen. Insgesamt zeigt die Analyse des Neunaugengenoms, dass 263 Gene in 224 Genfamilien, also für 1,2 bis 1,5 Prozent aller Gene des Menschen, diese nicht, wie vorher vermutet, spezifisch nur in moderneren Wirbeltieren mit Kiefern zu finden sind, sondern schon weitaus früher in der Evolution im gemeinsamen Vorfahren aller Wirbeltiere zu finden waren.

Auch zeigte die Analyse des Neunaugengenoms, dass ein bestimmtes regulatorisches Element des so genannten Shh-Gens noch nicht im Neunauge vorhanden ist. Neunaugen haben zwar einen mittigen Flossensaum, aber noch keine paarigen Flossen. Die genetische Basis für zwei Bauch- und Brustflossen, also die evolutionären Vorgänger von Armen und Beinen, die mit diesem Teil des Shh-Gens zu tun hat, ist damit sicher erst auf dem evolutionären Ast zu den Wirbeltieren mit Kiefern entstanden.

Die Gene, die in den vergangenen 500 Millionen Jahren, seit Rundmäuler und Wirbeltiere mit Kiefern ihre separaten evolutionären Wege gingen, zu Wirbeltier-Innovationen führten, hatten vermehrt mit Neuropeptiden und Neurohormonen zu tun, also Genen, die für die Ausarbeitung und Genauigkeit von Nervensignalen zuständig sind. Diese wichtigen evolutionären Erfindungen sind aber wahrscheinlich eher durch Veränderungen in der Steuerung dieser Gene entstanden als in der Duplikation oder Veränderung der Gene selber. Im Immunsystem der Neunaugen, die schon den T-und B-Lymphozyten ähnliche Zellen haben, sind andere den Neunaugen spezifische Rezeptoren zu finden, die keinen Äquivalenten in moderneren Wirbeltieren zu haben scheinen.

Originalveröffentlichung:
Smith, J. et al. 2013. Sequencing of the sea lamprey (Petromyzon marinus) genome provides insights into vertebrate evolution. Nature Genetics. Vol. 45.

Unter dem Link http://dx.doi.org/10.1038/ng.2568 ist die Veröffentlichung ab 24. Februar 2013, 19 Uhr mitteleuropäischer Zeit online nachzulesen. Für Journalisten ist sie im Pressebereich von Nature Genetics zugänglich.

Fotos eines Neunauges (Fotos: Jeramiah Smith) sowie einer Neunaugenlarve (Foto: Chris Amemiya) können im Folgenden heruntergeladen werden:
http://www.pi.uni-konstanz.de/2013/024-lamprey_1_LR.jpg
http://www.pi.uni-konstanz.de/2013/024-lamprey_2_LR.jpg
http://www.pi.uni-konstanz.de/2013/024-lamprey_3_LR.jpg
http://www.pi.uni-konstanz.de/2013/024-lamprey_larvaLR.jpg
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Prof. Axel Meyer, Ph.D.
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