Der Stoff, aus dem das Gedächtnis ist

Drosophila melanogaster<br>Foto: IMP/Solvin Zankl

Wie unser Gehirn Gedächtnisinhalte speichert, ist über weite Strecken noch unerforscht. Gesichert ist, dass es mindestens zwei Arten von Gedächtnis gibt, die auf unterschiedliche Weise zustande kommen.

Für die Ausbildung des Kurzzeitgedächtnisses werden in den Nervenzellen (Neuronen) des Gehirns bereits vorhandene Proteine chemisch verändert. Gehen Inhalte ins Langzeitgedächtnis über, so müssen die Zellen neue Eiweißmoleküle bilden. Dies ist aus Tierversuchen bekannt, bei denen ein bestimmter Schritt der Proteinsynthese – die Translation – chemisch blockiert wurde. Diese Tiere konnten kein Langzeitgedächtnis ausbilden.

Auf welche Weise die neu gebildeten Eiweißstoffe Gedächtnisinhalte festigen, ist nicht im Detail geklärt. Man nimmt an, dass sie sowohl bereits vorhandene Verbindungen (Synapsen) zwischen Nervenzellen verstärken als auch neue Synapsen bilden. Beide Vorgänge zusammen sind die Grundlage des Langzeitgedächtnisses.
Eine Nervenzelle kann durch zehntausende Synapsen mit anderen Neuronen verbunden sein. Bei der Fixierung von Gedächtnisinhalten wird jedoch nur ein Teil der Synapsen verändert. Ungeklärt ist, wie Zellen die Proteinsynthese lokal eingrenzen können. Gedächtnisforscher – unter ihnen Eric Kandel – postulierten eine Art „molekulares Etikett“, das die Produktion von Eiweißmolekülen nur in bestimmten Synapsen zulässt. Als Kandidaten für lokale Proteinregulatoren schlug Kandel die Familie der CPEB-Proteine vor. Diese Moleküle regeln auch wichtige Entwicklungsschritte beim Embryo.

Gedächtnistraining für Fliegen

Am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) wies die Neurobiologin Krystyna Keleman vor fünf Jahren nach, dass CPEB-Proteine bei der Taufliege tatsächlich für die Ausbildung des Langzeitgedächtnisses notwendig sind.

Die IMP-Forscher studieren die Gedächtnisleistung von Fliegen anhand ihres Sexualverhaltens. Fliegenweibchen verlieren nach der Begattung das Interesse an weiteren Annäherungsversuchen. Männliche Fliegen lernen durch wiederholte Versuche, dass sie nur bei jungfräulichen Weibchen Erfolg haben. Sie erkennen diese an ihrem Geruch.

Für die Verhaltensexperimente wurden am IMP kleine „Trainigszentren“ für Taufliegen gebaut. Dort üben Fliegenmännchen, die jungfräulichen von den bereits begatteten Weibchen zu unterscheiden. In Abhängigkeit von der Trainingsdauer können sie sich unterschiedlich lange an das Gelernte erinnern. Mit dieser Versuchsanordnung können Kurz- und Langzeitgedächtnis der Fliegen erforscht werden.

Molekulares Etikett für Nervenzellen

Die Suche nach den Molekülen, welche die Proteinsynthese und damit die Bildung des Langzeitgedächtnisses regeln, erwies sich als langwierig. Der junge Biologe Sebastian Krüttner widmete der Frage seine Doktorarbeit am IMP. Er identifizierte schließlich die beiden fast identischen Moleküle Orb2A und Orb2B aus der CPEB-Familie. Beide Formen werden für das Langzeitgedächtnis der Fliege benötigt, doch während Orb2B weit verbreitet ist, sind von Orb2A nur geringe Mengen zu finden.
Die Ergebnisse genetischer, biochemischer und verhaltensbiologischer Studien legen nun folgenden Mechanismus der Gedächtnisbildung nahe: Durch den Vorgang des Lernens wird Orb2A in bestimmten Synapsen aktiviert. Dort bewirkt es – nach Art eines Kristallisationskeims – dass sich Komplexe aus Orb2A und Orb2B bilden. Diese Komplexe wiederum greifen lokal in die Proteinsynthese ein und führen dazu, dass die aktivierten Synapsen eine dauerhafte Veränderung erfahren – Gedächtnis entsteht.

Dieses Modell, das die IMP-Forscher in der heutigen Ausgabe der Zeitschrift Neuron publizieren, wartet mit einigen Überraschungen auf. Dass zwei so ähnliche Proteine wie Orb2A und Orb2B ganz unterschiedliche Aufgaben haben, kam für die Autoren unerwartet. Ebenso verblüffend war die Erkenntnis, dass das Molekül Orb2A für seine Funktion genau jenen Abschnitt nicht benötigt, der RNA bindet und den man bisher bei CPEB-Proteinen für unerlässlich hielt.
Die Art und Weise, wie Orb2A und Orb2B bei der Gedächtnisbildung zusammenspielen, könnte auch für andere Proteine der CPEB-Familie gelten. Da diese Eiweißmoleküle für viele Lebensprozesse wichtig sind und sich im Lauf der Evolution kaum verändert haben, könnte hiermit ein universales Prinzip entdeckt worden sein.

Die Arbeit „Drosophila CPEB Orb2A mediates memory independent of ist RNA-binding domain“ von Sebastian Krüttner et al. erscheint am 18. Oktober 2012 in der Zeitschrift Neuron.
Krystyna Keleman
Die aus Warschau stammende Wissenschaftlerin Krystyna Keleman erhielt ihre Ausbildung in Polen, den USA und der Schweiz. 2003 promovierte sie an der Universität Zürich in Entwicklungs-Neurobiologie. Im Jahr 1988 kam sie nach Wien, wo sie am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) eine Arbeitsgruppe leitet.
Über das IMP
Das Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie betreibt in Wien biomedizinische Grundlagenforschung und wird dabei maßgeblich von Boehringer Ingelheim unterstützt. Mehr als 200 ForscherInnen aus über 30 Nationen widmen sich der Aufklärung grundlegender molekularer und zellulärer Vorgänge, um komplexe biologische Phänomene im Detail zu verstehen und Krankheitsmechanismen zu entschlüsseln.

Kontakt:
Dr. Heidemarie Hurtl
IMP Communications
Tel.: (+43 1) 79730 3625
Mobil: 0664/8247910
hurtl@imp.ac.at

Wissenschaftlicher Kontakt:
keleman@imp.ac.at

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Dr. Heidemarie Hurtl idw

Weitere Informationen:

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