Städter oder Landei

Verhaltensexperimente mit Stadt- und Waldamseln: Die Vögel aus der Stadt warten länger bis sie neue Objekte, hier einen Plastikbecher, erkunden.<br>© MPI f. Ornithologie/Catarina Miranda<br>

Stadtmenschen gelten gemeinhin als offener gegenüber neuen Entwicklungen als Menschen auf dem Land. Bei Tieren, die Städte erfolgreich besiedelt haben, scheint das Stadtleben ebenso den Charakter zu verändern.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell konnten nun mit handaufgezogenen Stadt- und Waldamseln zeigen, dass Stadtamseln weniger neugierig gegenüber fremden Gegenständen sind als ihre Artgenossen vom Land. Sie lassen sich von unbekannten Reizen zudem stärker abschrecken. Demnach stellen die Persönlichkeitsunterschiede zwischen Land- und Stadtvögeln nicht nur eine Anpassung des Verhaltens an die urbanen Gegebenheiten dar. Vielmehr sind sie durch die Evolution verändert worden, da das Stadtleben vermutlich bestimmte Persönlichkeitstypen von Wildtieren begünstigt.

Haustier-Besitzer haben es schon immer gewusst: Auch Tiere besitzen Persönlichkeit. Bei über 100 Tierarten haben Wissenschaftler inzwischen festgestellt, dass die einzelnen Individuen dauerhaft eigene Verhaltensstrategien verfolgen und Verhaltensweisen in verschiedenen Situationen ähnlich anwenden. Wissenschaftler vermuten, dass solche Unterschiede auch für die Anpassung an neue Lebensräume wichtig sind.

Gerade die zunehmende Verstädterung unserer Umwelt hat die Lebensbedingungen vieler Tiere deutlich verändert. Sie müssen sich nicht nur physisch, sondern auch in ihrem Verhalten an neue, vom Menschen geprägte Lebensbedingungen anpassen. Ein Paradebeispiel für eine solche Anpassungsfähigkeit ist die Amsel (Turdus merula). Ursprünglich ein scheuer Waldvogel, gehört sie heute zu den häufigsten Vogelarten in Städten, Grünanlagen und Parks. Der neue Lebensraum hat das Verhalten der Tiere auf vielfältige Weise verändert: Stadtamseln ziehen beispielsweise im Winter seltener in den Süden, sie brüten zudem früher und leben enger mit Artgenossen zusammen.

Städte verändern aber offenbar weltweit das Verhalten von Wildtieren grundlegend – nicht nur bei der Amsel, sondern bei vielen verschiedenen Tierarten. Die Forscher vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell haben die verfügbaren Erkenntnisse zu Unterschieden zwischen Stadt- und Landpopulationen verschiedener Arten ausgewertet: In 27 von 29 analysierten Studien zu verschiedenen Arten verhalten sich die Tiere in Stadt und Land unterschiedlich gegenüber neuen Reizen. „Dies scheint also ein globales Phänomen zu sein“, so Catarina Miranda, Erstautorin der Studie.

In ihrer Studie haben die Radolfzeller Ornithologen getestet, ob diese Verhaltensunterschiede sich auch in unterschiedlichen Persönlichkeitstypen widerspiegeln und, wenn ja, ob diese das Ergebnis evolutionärer Veränderungen oder der individuellen Verhaltensanpassung sind. Dazu haben die Forscher handaufgezogene Stadt- und Landamseln mehrere Monate lang immer wieder mit unbekannten Gegenständen konfrontiert. Die Tiere waren kurz nach dem Schlüpfen aus dem elterlichen Nest entfernt und von Hand aufgezogen worden. So konnten sie sicherstellen, dass es sich bei den beobachteten Reaktionen nicht um erlernte, sondern vermutlich um angeborene Verhaltensweisen handelte.

Im Vergleich zu den Vögeln aus dem Wald warteten die Tiere aus der Stadt deutlich länger ab, bis sie sich dem neuen Gegenstand nähern. Die Stadttiere reagieren jedoch nicht nur abwartender gegenüber Neuem, sie meiden Unbekanntes regelrecht: In hungrigem Zustand ließen sie sich von fremden Gegenständen vor ihrer Futterbox länger vom Fressen abhalten. Eine eindeutige Erklärung für diese Unterschiede in den Persönlichkeitstypen zwischen Stadt- und Landamseln haben die Wissenschaftler bis jetzt noch nicht. „Möglicherweise müssen Amseln in der schnelllebigen Stadtwelt permanent mit neuen Situationen zurechtkommen, wohingegen das Landleben mit seinen gleichförmigeren Abläufen verlässlichere Lebensbedingungen bietet“, vermutet Catarina Miranda vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell das Ergebnis. „Die Evolution scheint im Laufe der Besiedlung von Städten daher bestimmte Persönlichkeitstypen begünstigt zu haben“, so Miranda.

Diese Erklärung wird durch eine jüngst veröffentlichte Studie gestützt: Gene, die wahrscheinlich an der Ausprägung der hier untersuchten Verhaltensweisen beteiligt sind, zeigen in Stadtamseln eine andere Struktur als in den Waldamseln. Die Amselpersönlichkeit scheint also genetisch festgelegt und kann demnach durch Evolution während des Verstädterungprozesses verändert worden sein.

Originalpublikation:
Ana Catarina Miranda, Holger Schielzeth, Tanja Sonntag & Jesko Partecke
Urbanization and its effects on personality traits: a result of microevolution or phenotypic plasticity?
Global Change Biology, 19 June 2013; doi: 10.1111/gcb.12258

Ansprechpartner:
Dr. Jesko Partecke
Max-Planck-Institut für Ornithologie, Teilinstitut Radolfzell, Radolfzell
Telefon: +49 7732 1501-67
E-Mail: partecke@­orn.mpg.de

Ana Catarina Miranda
Max-Planck-Institut für Ornithologie, Teilinstitut Radolfzell, Radolfzell
Telefon: +49 7732 1501-54
E-Mail: miranda@­orn.mpg.de
https://www.youtube.com/watch?v=S4F_X81sYVs
Video:Catarina Miranda, Doktorandin am Max-Planck-Institut für Radolfzell und der International Max Planck Research School untersucht die Auswirkungen der Urbanisierung auf Amseln

Media Contact

Dr. Jesko Partecke Max-Planck-Institut

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Bakterien für klimaneutrale Chemikalien der Zukunft

For­schen­de an der ETH Zü­rich ha­ben Bak­te­ri­en im La­bor so her­an­ge­züch­tet, dass sie Me­tha­nol ef­fi­zi­ent ver­wer­ten kön­nen. Jetzt lässt sich der Stoff­wech­sel die­ser Bak­te­ri­en an­zap­fen, um wert­vol­le Pro­duk­te her­zu­stel­len, die…

Batterien: Heute die Materialien von morgen modellieren

Welche Faktoren bestimmen, wie schnell sich eine Batterie laden lässt? Dieser und weiteren Fragen gehen Forschende am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit computergestützten Simulationen nach. Mikrostrukturmodelle tragen dazu bei,…

Porosität von Sedimentgestein mit Neutronen untersucht

Forschung am FRM II zu geologischen Lagerstätten. Dauerhafte unterirdische Lagerung von CO2 Poren so klein wie Bakterien Porenmessung mit Neutronen auf den Nanometer genau Ob Sedimentgesteine fossile Kohlenwasserstoffe speichern können…

Partner & Förderer