Sehen lernen auch im hohen Alter

Ein anspruchsvolles „Sehtraining“ absolvierten die Mäuse, die Biologin Ulrike Matthies für die aktuelle Studie der Uni Jena untersucht hat. Foto: Jan-Peter Kasper/FSU<br>

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, sagt ein Sprichwort. Und hat damit für viele Bereiche recht: Ob nun Sprachen oder ein Musikinstrument, in der Kindheit und Jugend lernt es sich besser als im Alter. Grund dafür ist die Plastizität des Gehirns, die im Kindesalter besonders groß ist und nachhaltige Lernerfolge ermöglicht.

„Auch für das Sehen gibt es eine solche Phase, in der das Gehirn besonders gut lernt“, weiß PD Dr. Konrad Lehmann von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Der Neurobiologe erforscht die Plastizität der Sehrinde, allerdings nicht an Menschen sondern am Maus-Modell. „Für Mäuse liegt das Zeitfenster, in dem sie optimal dreidimensional Sehen lernen, zwischen 20 und 32 Tagen nach ihrer Geburt“, so der Wissenschaftler vom Institut für Allgemeine Zoologie und Tierphysiologie weiter.

Mit zunehmendem Alter sinkt die Plastizität der Sehrinde rapide, bis sie schließlich, so die bisherige Annahme, im Alter von rund 100 Tagen bei Mäusen gänzlich zum Erliegen kommt. Wie das Jenaer Forscherteam um Dr. Lehmann nun aber zeigen konnte, stimmt diese Annahme so nicht: In der heute (17. Juli) erscheinenden Ausgabe des „Journal of Neuroscience“ veröffentlichen sie Forschungsergebnisse, die belegen, dass die Plastizität der Sehrinde auch bei noch älteren Mäusen – wie aus einem Dornröschenschlaf – wieder „aufgeweckt“ werden kann.

„Entscheidend ist die Stärke und Qualität der zu verarbeitenden visuellen Reize“, sagt Biologin Ulrike Matthies, die Erstautorin der aktuellen Studie. Um einen Effekt zu erzielen, haben die Jenaer Forscher die Mäuse anspruchsvollen visuellen Reizen ausgesetzt: In einer Box sitzend bekamen diese immer wiederkehrende hochgeordnete Streifenmuster gezeigt, die sie mit ihren Augen verfolgten. Um Veränderungen in der Sehrinde zu induzieren, hatten die Forscher den Mäusen vorab jeweils ein Auge verschlossen. „Nach und nach bevorzugen die Nervenzellen dann die visuellen Reize des offenen Auges vor denen des verschlossenen“, sagt Ulrike Matthies.

Dass die Nervenzellen auf die höher organisierten Reize des offenen Auges so flexibel reagieren, sei ein Beleg für die vorhandene neuronale Plastizität der Sehrinde, erläutert Dr. Lehmann. In welchem Umfang dies bei den Mäusen im Experiment stattfand, haben die Forscher anhand eines speziellen bildgebenden Verfahrens gemessen, das die Aktivität von Nervenzellen optisch ableitet.

In ihrer Studie konnten die Jenaer Neurobiologen zeigen, dass selbst bei bis zu 246 Tage alten Mäusen das „Sehtraining“ Veränderungen im Gehirn hervorrufen kann. Tiere, die statt des anspruchsvollen Streifenmusters lediglich reizarme graue Flächen oder ungeordnete Strukturen zu sehen bekamen, zeigten diese Anpassungen in der Sehrinde nicht. Ob die Veränderungen im Gehirn allerdings langfristig Bestand haben und wie sie sich letztlich auf die Sehkraft der Mäuse auswirken, das müssen weitere Experimente erst noch zeigen. „Die neuronalen Voraussetzungen dafür, dass Mäuse auch in hohem Alter noch Sehen lernen können, sind jedenfalls vorhanden“, resümiert Lehmann.

Original-Publikation:
Matthies U., Balog J., and Lehmann K.: Temporally coherent visual stimuli boost ocular dominance plasticity, The Journal of Neuroscience (2013), 33(29):11774-11778, DOI:10.1523/JNEUROSCI.4262-12.2013
Kontakt:
PD Dr. Konrad Lehmann
Institut für Allgemeine Zoologie und Tierphysiologie der Universität Jena
Erbertstraße 1, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 949131
E-Mail: Konrad.Lehmann[at]uni-jena.de

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Dr. Ute Schönfelder idw

Weitere Informationen:

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