"Schleusentor" bleibt zu – Hinweise auf mögliche Ursache von Autismus

Beim Menschen wurden Neuroligine vor allem mit Autismus in Verbindung gebracht. Drastische Veränderungen auf zellulärer Ebene und an Nervenverbindungen konnten aber bis heute nicht nachgewiesen werden. „Deshalb sind die neuen Befunde so aufregend“, betont der münstersche Neurobiologe Prof. Dr. Hermann Aberle. „Sie liefern zum ersten Mal Hinweise darauf, dass strukturelle Defekte an Nervenverbindungen das mangelnde Sozialverhalten bei Autismus-Patienten hervorrufen könnten.“

Normalerweise setzt eine Nervenverbindung – eine Synapse – auf der sogenannten präsynaptischen Seite am Nervenende chemische Botenstoffe frei, sobald sie durch einen elektrischen Nervenimpuls gereizt wird. An neuromuskulären Verbindungen, also an Schnittstellen zwischen Nerv und Muskel, driften diese Botenstoffe zur Muskelmembran auf der gegenüberliegenden postsynaptischen Seite. Dadurch wird eine Muskelkontraktion ausgelöst. Wie nun die Teams um Prof. Dr. Hermann Aberle vom Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie der WWU und Prof. Dr. Stephan Sigrist von der FU Berlin in der angesehenen Fachzeitschrift „Neuron“ berichten, sind Neuroligine an der Ausbildung des postsynaptischen Areals beteiligt. Bei einem defekten Neuroligin-Gen geht daher oft die halbe Nervenverbindung verloren. Eine geordnete Übertragung von Botenstoffen ist dann nicht mehr möglich, und die elektrische Kommunikation zwischen Nerven- und Muskelzellen ist gestört. „Es ist, als ob ein Schiff in einer Schleuse stecken bleibt, weil das zweite Schleusentor nicht mehr aufgeht“, erklärt Hermann Aberle. Allerdings kommt die Kommunikation an den Nervenverbindungen der Fruchtfliege nicht völlig zum Erliegen. Daher sind die betroffenen Tiere lebensfähig, obwohl sie etwas schwächer sind als ihre Artgenossen.

Autismus ist eine relativ häufige psychische Erkrankung, die etwa jedes 200ste Neugeborene betrifft. Die Entwicklungsstörung ist begleitet von reduzierter Sprachentwicklung und mangelndem Sozialverhalten. Man weiß heute, dass genetische Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Entstehung dieser Erkrankung spielen. Im Jahre 2003 brachte der Franzose Thomas Bourgeron defekte Neuroligin-Gene zum ersten Mal mit Autismus in Verbindung. Hermann Aberle und Stephan Sigrist gehen davon aus, dass ihre jüngsten Beobachtungen auf Autismus-Patienten übertragen werden können, da die Funktionsweise und die Struktur der bei den Fliegen untersuchten Nervenverbindungen den Verschaltungen zwischen Nervenzellen im menschlichen Gehirn recht ähnlich sind. „Zukünftige Experimente könnten dies klären. Dank der Fruchtfliege gibt es jetzt erstmals Anhaltspunkte, an denen man anknüpfen kann“, betont Daniel Banovic, münsterscher Koautor der Studie.

Der Fluss der Informationen in Netzwerken von Nerven wird im Wesentlichen durch Veränderungen der Aktivität von Synapsen gesteuert. Die Menge an freigesetztem Botenstoff ist dabei proportional der Reizstärke. Sie kontrolliert somit eine Verstärkung oder Abschwächung der synaptischen Aktivität. Stark erregte Nervenverbindungen werden strukturell verstärkt, selten benutze Verbindungen werden abgebaut. „Man nimmt heutzutage an, dass diese dynamische Plastizität eine entscheidende Rolle spielt, wenn Erlerntes dauerhaft abgespeichert werden soll“, so Hermann Aberle. Da bei fehlerhaftem Neuroligin-Gen die elektrische Aktivität nur lückenhaft weitergegeben werden kann, könnten die Plastizitätsmechanismen außer Kraft gesetzt sein und das Gleichgewicht von starken und schwachen Synapsen nachhaltig verändern. Eine Verschiebung des synaptischen Gleichgewichts könnte als Auslöser für Verhaltensstörungen bei Autismus-Patienten infrage kommen.

Literatur:

Banovic D. et al. (2010): Drosophila Neuroligin 1 Promotes Growth and Postsynaptic Differentiation at Glutamatergic Neuromuscular Junctions; Neuron, Volume 66, Issue 5, 724-738, DOI 10.1016/j.neuron.2010.05.020

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Dr. Christina Heimken idw

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