Premiere: IOW-Forscher entwickeln erste flächendeckende Unterwasserbiotop-Karte der deutschen Ostsee

Biotop-Karte nach Schiele et al. 2015 (Legende: s. Original-Paper): Für rund 20 % der deutschen Ostsee wurden besonders schutzwürdige Biotoptypen, wie Islandmuschel-dominierte Schlickböden ermittelt. IOW

Basierend auf einem international anerkannten Klassifizierungssystem verbindet die neue Biotop-Karte Informationen zu auftretenden Artengemeinschaften mit Informationen zu abiotischen Lebensraummerkmalen. Das macht sie zu einer wichtigen Grundlage für die Umsetzung nationaler wie internationaler Naturschutzrichtlinien und damit zu einem wertvollen Instrument für naturverträgliches Meeresmanagement.

Mit neun Anrainerstaaten und rund 85 Mio. Menschen im Wassereinzugsgebiet ist die Ostsee einem besonders intensiven menschlichen Einfluss ausgesetzt. Zentrale Voraussetzung, um eine derart intensive Nutzung transparent und konfliktfrei zu regeln, ist eine international abgestimmte maritime Raumordnung. Diese legt fest, welche menschlichen Aktivitäten wann und wo auf See stattfinden können und hat außerdem die wichtige Funktion, die Berücksichtigung von Naturschutzbelangen sicher zu stellen.

Verbindlicher gesetzlicher Rahmen hierfür sind die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie und die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU. Für ihre Umsetzung sind gute Kenntnisse der Unterwasserlebensräume und den dort beheimateten Artengemeinschaften erforderlich.

Obwohl die Ostsee zu den am meisten erforschten Meeresgebieten zählt, wurde bislang jedoch für keinen einzigen Anrainerstaat eine großflächige Information über die räumliche Verteilung von Unterwasserbiotopen publiziert. Grund hierfür ist vermutlich das Fehlen von flächendeckendem Datenmaterial zu Unterwasserlebensgemeinschaften, da ihre Beprobung und direkte Beobachtungen nur punktuell möglich sind.

Für die deutsche Ostsee und die angrenzende „Ausschließliche Wirtschaftszone“ (AWZ) Deutschlands ist diese Wissenslücke nun geschlossen worden, indem die Auswertung von umfangreichem Probenmaterial mit neuen Modellierungsverfahren verknüpft wurden, um punktuelle Daten auf die Gesamtfläche hochzurechnen.

Dazu wertete ein Forscherteam um die IOW-Meeresbiologin Kerstin Schiele mehrere tausend Proben von im Meeresboden lebenden Organismen aus, die über 14 Jahre (1999 -2013) an gut 2000 verschiedenen Be-probungsstationen genommen wurden. Bestimmt wurden Häufigkeit und Biomasse soge-nannter „Makrozoobenthos“-Arten – im Wesentlichen Muscheln, Schnecken, Kleinkrebse und Würmer –, die als Charakterarten für bestimmte Biotoptypen gelten.

In einem zweiten Schritt trugen die WissenschaftlerInnen möglichst umfassende Informationen zu chemisch-physikalischen Umweltparametern zusammen, etwa zu Wassertiefe, Strömung, Salzgehalt, Wassertemperatur, Sauerstoffzehrung und Korngröße des Sediments. Dazu kombinierten sie Messdaten von den Beprobungsorten mit entsprechenden, bereits in anderen Kontexten publizierten Daten.

Die biologischen und abiotischen Umweltinfor-mationen bildeten dann die Grundlage für verschiedene computergestützte Analyseverfah-ren. Zum einen dienten sie dazu, anhand des von der Ostseeschutzkommission entwickelten, international verwendeten Klassifizierungssystems HELCOM HUB (Helsinki Commission Underwater Biotope and Habitat classification system) festzustellen, welche Biotoptypen überhaupt vorkommen. Zum anderen wurde ermittelt, wie sich diese Biotoptypen räumlich über das Untersuchungsgebiet verteilen.

„Insgesamt konnten wir 68 verschiedene Biotoptypen nach HELCOM HUB identifizieren. Für rund ein Fünftel der modellierten Fläche haben wir besonders schützenswerte Biotope ermittelt: Entweder stehen sie auf der Roten Liste stark gefährdeter Biotoptypen oder sind einfach generell sehr selten“, kommentiert Kerstin Schiele die Ergebnisse. Die Modellierung sei aufgrund der guten Datenlage sehr erfolgreich gewesen: Für 95 % der untersuchten Fläche habe man den für das HELCOM HUB-System nötigen Differenzierungsgrad für Unterwasserbiotope erreichen können.

„Das spricht für eine gute Anwendbarkeit der Karte als effektives Instrument für mehr Naturschutz in der maritimen Raumordnung. Grenzen von Unterwasserbiotopen unterliegen zwar einer stetigen Dynamik. Da die Biotop-Karte aber Daten aus über 10 Jahren berücksichtigt, bietet sie eine sehr gute Orientierung, wo im Vorfeld von Eingriffsplanungen genaue Untersuchungen nötig sind, um Schutzbedarf festzustellen“, erläutert die Meeresbiologin. „Außerdem schafft die von uns verwendete Biotop-Klassifizierung nach einem international anerkannten System eine gute Grundlage dafür, dass auch andere Ostsee-Anrainerstaaten kompatible Karten entwickeln können“, so Schiele abschließend.

Publiziert wurde die im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) erstellte Biotop-Karte und die dazugehörige Studie kürzlich in „Marine Pollution Bulletin“: Kerstin S. Schiele, Alexander Darr, Michael L. Zettler, René Friedland, Franz Tauber, Mario von Weber, Joachim Voss (2015) – Biotope map of the German Baltic Sea (doi: 10.1016/j.marpolbul.2015.05.038, http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26003386).

Durchgeführt wurden die Arbeiten in Kooperation mit Experten vom Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie (Mecklenburg-Vorpommern) und des Landesamtes für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume (Schleswig-Holstein).

*Fragen zu der Studie beantwortet
Dr. Kerstin Schiele | IOW-Arbeitsgruppe Ökologie benthischer Organismen
Tel.: 0381 5197 423 | kerstin.schiele@io-warnemuende.de

*Kontakt IOW-Presse- und Öffentlichkeitsarbeit:
Dr. Kristin Beck | Tel.: 0381 – 5197 135 | kristin.beck@io-warnemuende.de
Dr. Barbara Hentzsch | Tel.: 0381 – 5197 102 | barbara.hentzsch@io-warnemuende.de

Das IOW ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, zu der zurzeit 89 Forschungsinstitute und wissenschaftliche Infrastruktureinrichtungen für die Forschung gehören. Die Ausrichtung der Leibniz-Institute reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Sozial- und Raumwissenschaften bis hin zu den Geisteswissenschaften. Bund und Länder fördern die Institute gemeinsam. Insgesamt beschäftigen die Leibniz-Institute etwa 18.100 MitarbeiterInnen, davon sind ca. 9.200 WissenschaftlerInnen. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,64 Mrd. Euro. (http://www.leibniz-gemeinschaft.de)

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