Neues Taubheitsgen beim Menschen entdeckt: Homburger Forscher beteiligt

„Taubheit ist die häufigste Erkrankung der Sinnesorgane beim Menschen. Etwa eines von 500 Neugeborenen ist davon betroffen. Mehr als 50 Prozent der Fälle sind genetisch bedingt“, erklärt Jutta Engel vom Institut für Biophysik auf dem Campus Homburg. Zusammen mit ihrem Kollegen Dr. Niels Brandt war sie an der Entdeckung eines neuen Taubheitsgens beteiligt. Dieses Gen führt dazu, dass Ströme von Kalzium-Ionen, die beispielsweise für die Umwandlung von Hörsignalen in Nervenimpulse benötigt werden, nicht mehr fließen können.

Jutta Engel forscht seit Jahren auf diesem Gebiet, unter anderem an den Haarzellen des Innenohres von Mäusen: „Wir entnehmen das Corti-Organ, das die Haarsinneszellen enthält, aus dem Innenohr und messen winzige Kalziumströme. Dabei haben wir herausgefunden, welcher Typ von Kalziumkanal in den Haarsinneszellen in Folge eines Schallreizes geöffnet wird. Durch diese besonderen Kanäle, die man Cav1.3 nennt, strömen die Kalzium-Ionen in die Zelle, lösen dort die Ausschüttung von Botenstoffen aus und leiten damit den Schallreiz an den Hörnerv weiter. So kann die Maus hören, ohne diese Kalzium-Ströme wäre sie taub“, erklärt die Professorin. Mäuse, die nicht über diese Cav1.3-Kanäle verfügen, sind nicht nur taub, sondern haben auch einen stark verminderten Ruhepuls. Das ist ein Beweis dafür, dass bei Mäusen der Cav1.3-Kanal im Sinusknoten des Herzens den Rhythmus des Herzschlags bestimmt.

Da Mäuse jedoch einen zehnfach höheren Ruhepuls als Menschen besitzen, wurde für den Menschen ein solcher Mechanismus bisher ausgeschlossen. Nun entdeckte ein Team unter der Leitung von PD Dr. Hanno Bolz, Kölner Humangenetiker und Leiter der Studie, in Zusammenarbeit mit Ärzten aus Pakistan, dass es solche Störungen auch beim Menschen gibt.

In einer entlegenen Bergregion in Pakistan stießen die Forscher auf Familien mit fast erwachsenen Kindern, die taub waren und einen Ruhepuls von nur 35 Herzschlägen pro Minute hatten. Da die Eltern eine Verwandtschaft zweiten Grades aufwiesen, das heißt Cousin und Cousine waren, lag der Verdacht nahe, dass ein genetischer Defekt Ursache für das Syndrom ist. Normalerweise schlägt das Herz eines Erwachsenen zwischen 50 und 60 Mal pro Minute. Durch aufwändige genetische Untersuchungen stellte Dr. Bolz mit seinem Team fest, dass alle Betroffenen dieselbe Mutation im Cav1.3-Kalziumkanal aufwiesen. Bei der Mutation handelte es sich um den Einschub einer zusätzlichen Aminosäure.

Nun wollten die Wissenschaftler klären, warum sich die Mutation bei den Betroffenen so drastisch auswirkte. Die beteiligte Innsbrucker Forschergruppe um Professor Jörg Striessnig brachte dazu den mutierten Kanal in kultivierte Zellen ein. Die Gruppe fand heraus, dass die zusätzliche Aminosäure verhindert, dass sich der Kanal bei Erregung der Zellen öffnen kann. Die Mutation sitzt also offenbar an einer kritischen Stelle des Kanalproteins. Interessanterweise gibt es die mutierte Kanalpforte nur in einer bestimmten Variante des Cav1.3-Kalziumkanals, über deren Vorkommen bislang nichts bekannt war. Die Aufgabe der Homburger Forscher um Jutta Engel war es nun, Haarsinneszellen aus dem Innenohr von Mäusen zu gewinnen und den Nachweis zu erbringen, dass in diesen Zellen tatsächlich nur die seltene Variante des Cav1.3-Kalziumkanals vorhanden ist. Eine Forschergruppe aus Frankreich isolierte Material aus dem winzigen Sinusknoten von Mäusen und kam zu dem gleichen Ergebnis. Damit wurde der bestmögliche Beweis erbracht, dass die Symptomatik der pakistanischen Patienten durch fehlende Kalziumströme in den Sinneszellen des Innenohrs und im Sinusknoten hervorgerufen wird.

Die Studie der Wissenschaftler wurde jetzt online auf der Homepage der Zeitschrift Nature Neuroscience veröffentlicht und erscheint demnächst auch in der gedruckten Version. Die Entdeckung der seltenen Mutation hat nicht nur zu neuen Erkenntnissen in Zusammenhang mit angeborener Taubheit und Herzrhythmusstörungen geführt. „Man könnte den Betroffenen helfen, indem man ihnen sehr frühzeitig – möglichst als Babys – ein Cochlea-Implantat einsetzt, das ihnen das Hören ermöglicht. Den langsamen Herzrhythmus könnte man mit Hilfe von Medikamenten regulieren“, sagt Jutta Engel.

Bibliographische Angaben: Shahid M. Baig, Alexandra Koschak, Andreas Lieb, Mathias Gebhart, Claudia Dafinger, Gudrun Nürnberg, Amjad Ali, Ilyas Ahmad, Martina J. Sinnegger-Brauns, Niels Brandt, Jutta Engel, Matteo E. Mangoni, Muhammad Farooq, Habib U. Khan, Peter Nürnberg, Jörg Striessnig & Hanno J. Bolz: „Loss of Ca 1.3 (CACNA1D) function in a human channelopathy with bradycardia and congenital deafness“

Der Originalartikel ist zu finden unter: http://www.nature.com/neuro/journal/vaop/ncurrent/full/nn.2694.html

Kontakt:
Prof. Dr. Jutta Engel
Tel.: 06841/16-26202
E-Mail: jutta.engel@uks.eu

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Irina Urig idw

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