Molekulare Merkmale bringen neue Hirntumorarten zum Vorschein

Diagnose „neuroektodermaler Tumor des Zentralnervensystems“: Die Tumorzellen sind meist undifferenziert und weisen kaum charakteristische Merkmale auf. | © Dominik Sturm, DKFZ/Universitätsklinikum Heidelberg

Viele Hirntumoren bei Kindern gehen aus extrem unreifen und undifferenziert‎en Zellen des Zentralnervensystems hervor und werden deshalb auch als embryonale Tumoren bezeichnet. Dazu zählen unter anderem die Medulloblastome, die immer im Kleinhirn auftreten.

Einen Großteil embryonaler Hirntumoren, die oberhalb des Kleinhirns lokalisiert sind, fassen Mediziner unter der Bezeichnung „primitive neuroektodermale Tumoren des Zentralnervensystems“ (ZNS-PNET) zusammen. Etwa 10 Kinder und 40 Erwachsene erhalten in Deutschland jedes Jahr diese Diagnose. Diese Hirntumoren wachsen besonders schnell und aggressiv und sind schlecht zu behandeln.

„Aus neueren Untersuchungen wissen wir, dass es sich bei den PNET um eine heterogene Gruppe von Krebserkrankungen handelt. Doch die präzise Diagnose ist schwierig: Es gibt keine molekularen Marker und bei der histologischen Beurteilung des Tumorgewebes unter dem Mikroskop kommt es zu Überschneidungen mit vielen anderen Hirntumorarten“, erklärt der Neuropathologe Andrey Korshunov vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und dem Universitätsklinikum Heidelberg.

Um diese gefährlichen Tumoren besser klassifizieren und damit den einzelnen Patienten präziser und damit erfolgreicher behandeln zu können, startete ein internationales Forscherteam unter der Federführung von Marcel Kool am DKFZ und David Ellison vom St. Jude Children's Research Hospital (Memphis, USA) eine großangelegte Untersuchung. Dabei unterzogen Forscher Gewebeproben von über 300 ZNS-PNET einer umfassenden molekularen und histologischen Analyse.

Zunächst kartierten die Wissenschaftler die Verteilung der Methylmarkierungen am Erbgut der Tumoren. Anhand dieser Methylierungsprofile konnten sie im Vergleich mit Referenz-Tumoren bereits erkennen, dass rund zwei Drittel der vermeintlichen ZNS-PNET anderen bekannten Tumorarten des Zentralnervensystems zuzuordnen waren. In vielen Fällen konnte diese Beobachtung zusätzlich durch eine erneute histologische Beurteilung des Tumorgewebes unterstützt werden.

„Das Ergebnis zeigt uns, wie wichtig die molekulare Analyse dieser primitiven Tumoren ist“, erklärt Dominik Sturm, der Erstautor der Arbeit. Neben seiner molekulargenetischen Forschung am DKFZ ist Sturm Kinderarzt am Universitätsklinikum Heidelberg. „Unsere neue Klassifizierung bringt in vielen Fällen ganz andere Behandlungsoptionen zu Tage.“

Der Großteil der verbleibenden Tumoren ließ sich anhand der Methylierungsprofile in vier neue, bislang unbekannte Tumorarten einteilen, die deutliche Unterschiede in Bezug auf Patientenalter und -geschlecht sowie auf den klinischen Verlauf aufweisen. Weitere Analysen wie Genaktivitäts-Profile, Bestimmung der Kopienzahl der einzelnen Chromosomen und DNA-Sequenzierung, brachten für jede der vier neuen Tumorarten zusätzlich zu ihrem spezifischen Methylierungsprofil eine charakteristische genetische Veränderung zu Tage. Aufgrund des histologischen Erscheinungsbildes hingegen waren diese Gruppen nur schwer voneinander abzugrenzen.

„Auf der Basis der molekularen Tumorprofile können wir bei zukünftigen klinischen Studien die betroffenen Patienten sinnvoll zuordnen“, erklärt Dominik Sturm. „Die Tumoren der vier neu beschriebenen Gruppen unterscheiden sich so deutlich von allen bislang bekannten Hirntumoren, dass wir hier von neuen Tumorarten sprechen können. Wir gehen davon aus, dass sie sich auch in ihrem Ansprechen auf Chemotherapeutika und zielgerichtete Medikamente unterscheiden.“ Erste Hinweise auf mögliche Angriffspunkte der einzelnen Tumorgruppen hat die molekulare Analyse bereits erbracht.

Die Arbeit macht auch deutlich, welche Bedeutung internationalen Kooperationen in der Erforschung seltener Krebserkrankungen zukommt. Ohne den Zusammenschluss zweier der weltweit größten kinderonkologischen Forschungszentren, dem DKFZ – in Kooperation mit dem Universitätsklinikum – und dem St. Jude Children's Research Hospital, wäre diese umfassende Studie nicht möglich gewesen.

Die Arbeit wurde unter anderem von der Deutschen Krebshilfe, der Deutschen Kinderkrebsstiftung und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt.

Dominik Sturm, Brent A. Orr, Umut H. Toprak, Volker Hovestadt, David T. W. Jones, David Capper, Martin Sill, Ivo Buchhalter, Paul A. Northcott, Irina Leis, Marina Ryzhova, Christian Koelsche, Elke Pfaff, Sariah J. Allen, Gnanaprakash Balasubramanian, Barbara C. Worst, Kristian W. Pajtler, Sebastian Brabetz, Pascal D. Johann, Felix Sahm, Jüri Reimand, Alan Mackay, Diana M. Carvalho, Marc Remke, Joanna J. Phillips, Arie Perry, Cynthia Cowdrey, Rachid Drissi, Maryam Fouladi, Felice Giangaspero, Maria Łastowska, Wiesława Grajkowska, Wolfram Scheurlen, Torsten Pietsch, Christian Hagel, Johannes Gojo, Daniela Lötsch, Walter Berger, Irene Slavc, Christine Haberler, Anne Jouvet, Stefan Holm, Silvia Hofer, Marco Prinz, Catherine Keohane, Iris Fried, Christian Mawrin, David Scheie, Bret C. Mobley, Matthew J. Schniederjan, Mariarita Santi, Anna M. Buccoliero, Sonika Dahiya, Christof M. Kramm, André O. von Bueren, Katja von Hoff, Stefan Rutkowski, Christel Herold-Mende, Michael C. Frühwald, Till Milde, Martin Hasselblatt, Pieter Wesseling, Jochen Rößler, Ulrich Schüller, Martin Ebinger, Jens Schittenhelm, Stephan Frank, Rainer Grobholz, Istvan Vajtai, Volkmar Hans, Reinhard Schneppenheim, Karel Zitterbart, V. Peter Collins, Eleonora Aronica, Pascale Varlet, Stephanie Puget, Christelle Dufour, Jacques Grill, Dominique Figarella-Branger, Marietta Wolter, Martin U. Schuhmann, Tarek Shalaby, Michael Grotzer, Timothy van Meter, Camelia-Maria Monoranu, Jörg Felsberg, Guido Reifenberger, Matija Snuderl, Lynn Ann Forrester, Jan Koster, Rogier Versteeg, Richard Volckmann, Peter van Sluis, Stephan Wolf, Tom Mikkelsen, Amar Gajjar, Kenneth Aldape, Andrew S. Moore, Michael D. Taylor, Chris Jones, Nada Jabado Matthias A. Karajannis, Roland Eils, Matthias Schlesner, Peter Lichter, Andreas von Deimling, Stefan M. Pfister, David W. Ellison, Andrey Korshunov, and Marcel Kool:
New Brain Tumor Entities Emerge from Molecular Classification of CNS-PNETs, CELL 2016, DOI: 10.1016/j.cell.2016.01.015

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krebsinformationsdienstes (KID) klären Betroffene, Angehörige und interessierte Bürger über die Volkskrankheit Krebs auf. Gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Heidelberg hat das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg eingerichtet, in dem vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik übertragen werden. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums ist ein wichtiger Beitrag, um die Chancen von Krebspatienten zu verbessern. Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren.

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