Malen nach Zahlen: Algorithmus rekonstruiert Prozesse aus Einzelbildern

Die neue Methode rekonstruiert aus einzelnen Bilddaten fortlaufende biologische Vorgänge. Quelle: Helmholtz Zentrum München

Die modernen Lebenswissenschaften liefern in immer kürzerer Zeit eine stets größer werdende Menge an Daten. Sie beherrsch- und auswertbar zu machen, ist das Ziel von Dr. Dr. Alexander Wolf und seinen Kollegen am Institute of Computational Biology (ICB) des Helmholtz Zentrums München. Dazu versuchen die Forscherinnen und Forscher, Software zu programmieren, die diese Auswertung übernimmt. Allerdings tun sich dabei verschiedene Hürden auf.

„In der aktuellen Studie haben wir uns mit der Fragestellung befasst, wie ein Algorithmus einzelne Bilder in einen kontinuierlichen Prozess einordnen kann“, erklärt Studienleiter Wolf. „So war es bisher zwar möglich, Bildinformation nach klar abgegrenzten Kategorien zu klassifizieren, bei Krankheitsverläufen oder in der Entwicklungsbiologie stößt das aber an Grenzen, weil die Prozesse keine Einzelschritte sondern eben fortlaufend sind.“

Um dem Rechnung zu tragen, bediente sich das Helmholtz-Team der Methode des sogenannten Deep Learning*, also maschinellen Lernprozessen. „Über künstliche neuronale Netze können wir nun Einzelbilder zu Prozessen zusammenrechnen und sie zudem für den Menschen nachvollziehbar abbilden“, sagen Philipp Eulenberg und Niklas Köhler, ehemalige Masterstudenten am ICB und Erstautoren der Studie.

Blutzellen und Netzhäute als Sparringspartner

Um die Leistungsfähigkeit der Methode zu demonstrieren, wählten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwei Beispiele. Im ersten Ansatz rekonstruierte die Software den kontinuierlichen Zellzyklus von weißen Blutzellen anhand von Bildern aus einem bildgebenden Durchflusszytometer mit einem Fluoreszenzmikroskop. „Ein weiterer Vorteil dieser Betrachtung liegt darin, dass unsere Software so schnell ist, dass man die Entwicklung der Zellen quasi 'on-the-fly' also noch während der Analyse im Zytometer abbilden kann“, erklärt Wolf. „Darüber hinaus macht unsere Software sechsmal weniger Fehler als bisherige Ansätze.“

Im zweiten Experiment rekonstruierten die Forscher den Krankheitsverlauf einer diabetischen Retinopathie.** „Dazu gaben wir unserer Software 30.000 einzelne Bilder von Netzhäuten – sozusagen als Sparringspartner“, erklärt Niklas Köhler. „Dadurch, dass sie die Daten automatisch zu einem kontinuierlichen Prozess zusammenfügt, erlaubt uns die Software, eine Vorhersage für den Krankheitsverlauf auf einer kontinuierlichen Skala zu treffen.“

Und sollten die Daten nicht in einen fortlaufenden biologischen Prozess gehören? „In einem solchen Fall erkennt die Software, dass es sich um ungeordnete Einzelkategorien handelt und verteilt die Messdaten auf einzelne Cluster“, so Wolf. Neben weiteren Anwendungen der Methode wollen Wolf und seine Kollegen in Zukunft weitere Probleme bei der Auswertung biologischer Daten mit Hilfe von maschinellem Lernen lösen.

Weitere Informationen

* Algorithmen des Deep Learning simulieren Lernprozesse, wie sie beim Menschen vorkommen (neuronale Netze) – in etwa so wie ein Kind lernt, Gesichter zu erkennen oder Tiere zu unterscheiden. Das Prinzip funktioniert besonders gut, wenn große Datenmengen (Big Data) zum Training verfügbar sind. Eine der Stärken von Deep Learning ist die Bilderkennung. Zwischen der Eingabe und der Ausgabe sind hier mehr Entscheidungsebenen (layers) zwischengeschaltet als sonst bei neuronalen Netzen üblich, daher der Begriff der Tiefe.

** Diabetische Retinopathie ist die Hauptursache für den frühen Verlust des Augenlichts in der westlichen Welt. Die Diagnose erfolgt normalerweise durch Fachpersonal, was die vier Stadien gesund, mild, mittel und schwer zuordnet. Die Software konnte anhand von 8000 Bildern den Verlauf beziehungsweise die zunehmende Schwere der Krankheit beschreiben, ohne dass sie Informationen zur Ordnungsfolge bekommen hatte.

Hintergrund:
Das Team und Alex Wolf konnte erst kürzlich einen der vorderen Plätze beim Data Science Bowl belegen, einem der weltweit höchstdotierten Wettbewerbe zum Thema Big Data. In ihrem Beitrag hatte das Team einen Algorithmus programmiert, der binnen weniger Millisekunden Lungenkrebs auf Basis von 300 Schichten eines dreidimensionalen Computertomographie (CT)-Scans erkennt – ein Vorgang für den ein Radiologe im schlechtesten Fall mehrere Stunden benötigen würde.

Das ICB befasst sich auch in anderen Zusammenhängen mit dem Thema Deep Learning: Kürzlich stellten die Wissenschaftler in ‚Nature Methods‘ einen Algorithmus vor, der die Entwicklung von Blutstammzellen vorausberechnen kann. https://www.helmholtz-muenchen.de/presse-medien/pressemitteilungen/alle-pressemi… Im Video „Deep Learning Predicts Stem Cell Development“ erklären sie, wie das funktioniert. https://www.youtube.com/watch?v=nZ46-fi8OF4&feature=youtu.be

Original-Publikation:
Eulenberg, P. et al. (2017): Reconstructing cell cycle and disease progression using deep learning. Nature Communications, DOI: 10.1038/s41467-017-00623-3 https://www.nature.com/articles/s41467-017-00623-3

Das Helmholtz Zentrum München verfolgt als Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt das Ziel, personalisierte Medizin für die Diagnose, Therapie und Prävention weit verbreiteter Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus und Lungenerkrankungen zu entwickeln. Dafür untersucht es das Zusammenwirken von Genetik, Umweltfaktoren und Lebensstil. Der Hauptsitz des Zentrums liegt in Neuherberg im Norden Münchens. Das Helmholtz Zentrum München beschäftigt rund 2.300 Mitarbeiter und ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, der 18 naturwissenschaftlich-technische und medizinisch-biologische Forschungszentren mit rund 37.000 Beschäftigten angehören. http://www.helmholtz-muenchen.de

Das Institut für Computational Biology (ICB) führt datenbasierte Analysen biologischer Systeme durch. Durch die Entwicklung und Anwendung bioinformatischer Methoden werden Modelle zur Beschreibung molekularer Prozesse in biologischen Systemen erarbeitet. Ziel ist es, innovative Konzepte bereitzustellen, um das Verständnis und die Behandlung von Volkskrankheiten zu verbessern. http://www.helmholtz-muenchen.de/icb

Ansprechpartner für die Medien:
Abteilung Kommunikation, Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), Ingolstädter Landstr. 1, 85764 Neuherberg – Tel. +49 89 3187 2238 – Fax: +49 89 3187 3324 – E-Mail: presse@helmholtz-muenchen.de

Fachlicher Ansprechpartner:
Dr. Dr. Alexander Wolf, Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), Institute of Computational Biology, Ingolstädter Landstr. 1, 85764 Neuherberg – Tel.: +49 89 3187 4217 – E-Mail: alex.wolf@helmholtz-muenchen.de

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