Keine stille Post im Gehirn: Kommunikation zwischen Nervenzellen effektiver als gedacht

Ich höre quietschende Reifen, sehe im Augenwinkel ein Auto näherkommen – und springe schnell zurück auf den Gehweg. Dass ich mit heiler Haut davon gekommen bin, verdanke ich den Millionen von Nervenzellen, die in meinem Gehirn die verschiedenen Informationen verarbeiten und in adäquate Handlungsanweisungen umsetzen.

Die Kommunikation zwischen den Neuronen erfolgt dabei über kleine Spannungsimpulse, die Aktionspotentiale. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik haben zusammen mit Kollegen vom Baylor College of Medicine (USA) gezeigt, dass die benachbarten Nervenzellen weniger stark korreliert sind.

Dies könnte implizieren, dass die Informationsverarbeitung deutlich effizienter ist als bislang vermutet. Somit ist eine geringere Anzahl an Neuronen notwendig, um große Datenmengen zu verarbeiten (Science, 28. Januar 2010).

„Wir müssen verstehen, wie ein gesundes Gehirn funktioniert, wenn wir Menschen mit Fehlfunktionen helfen wollen, wie sie beispielsweise bei Autismus auftreten“, sagte Andreas Tolias, Neurowissenschaftler am Baylor College für Medizin, USA, und einer der Hauptautoren der Studie.

Das Gehirn ist die Schaltzentrale unseres Körpers, der Ort wo alle Informationen zusammengeführt werden. Es verarbeitet die unterschiedlichsten Eindrücke und koordiniert alle Bewegungen. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Nervenzellen erfolgt dabei auf verschiedenen hierarchischen Ebenen. Wenn wir beispielsweise mit den Augen etwas wahrnehmen, so wird diese Information nacheinander in etwa zwölf verschiedenen Regionen des visuellen Kortex verarbeitet. Die Weiterleitung der Signale von Zelle zu Zelle erfolgt dabei über elektrische Signale, die Aktionspotentiale.

Die Wissenschaftler können diese Informationsleitung hörbar machen, da die einzelnen Nervenzellen „feuern“, wenn sie aktiv sind. Zeigt man einer Versuchsperson immer das gleiche Bild mehrmals hintereinander, so klingt die Feuerrate jedoch jedes Mal anders. Ein Teil der Nervenzellaktivität ist also unabhängig vom visuellen Reiz. Bislang wurde vermutet, dass diese reizunabhängigen Aktionspotentiale bei benachbarten Nervenzellen aufgrund der engen Verknüpfung oft zu gleichen Zeiten auftreten. Dies wäre allerdings problematisch: Je stärker die Zellen korreliert sind, desto stärker wird das reizunabhängige Signal und desto schwieriger wird es für das Gehirn, zwischen relevanter und irrelevanter Information zu unterscheiden.

„Wir haben eine Methode entwickelt, mit der wir Aktionspotentiale noch präziser messen können“, sagte Alexander Ecker, Doktorand am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik und Erstautor der Studie. Die Wissenschaftler haben trainierten Rhesusaffen verschiedene Bilder gezeigt, und gleichzeitig die Aktivität mehrerer, beieinander liegender Nervenzellen gemessen. Durch die neue Kombination von Messtechnik und Versuchsaufbau gelang dem deutsch-amerikanischen Wissenschaftlerteam der Nachweis, dass dicht beieinander liegende Nervenzellen unabhängig voneinander reagieren.

„Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Verschaltung von Neuronen im Gehirn so organisiert ist, dass deren Aktivitäten dekorreliert werden“, sagt Alexander Ecker. Das heißt, obwohl alle Nervenzellen die gleichen Informationen bekommen, setzt jede Nervenzelle diese anders um und leitet sie weiter. Jede Nervenzelle macht das Gleiche, aber nicht jede Nervenzelle macht es auf die gleiche Art und Weise. Erst durch die vielen unterschiedlichen Einzelhandlungen ergibt sich ein einheitliches Ganzes. Möglicherweise dient dieser Mechanismus dazu, das Zusammenspiel zwischen den Nervenzellen bei der Signalverarbeitung zu verbessern und zu vereinfachen. „Die Informationsverarbeitung im Gehirn ist viel einfacher, wenn die Nervenzellenaktivität nicht korreliert ist. Wenn eine Hierarchieebene wissen will, was die andere tut, muss sie nicht erst Korrelationen herausrechnen“, sagte Andreas Tolias. Daher sind weniger Nervenzellen als bislang angenommen nötig, um große Datenmengen zu verarbeiten.

„Unsere Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die bisherigen Modelle des Hirnrindenaufbaus. Wenn wir wissen, wie das gesunde Gehirn funktioniert, können wir in Zukunft auch das Gehirn von Epileptikern oder Autisten besser verstehen“, hofft Neurowissenschaftler Ecker.

Originalveröffentlichung

Ecker, A. S., Berens, P., Keliris, G. A., Bethge, M., Logothetis, N.K., Tolias, A.S. (2009)
Decorrelated Neuronal Firing in Cortical Microciruits
Science, 28. Januar 2010
Kontakt
Alexander Ecker und Prof. Dr. Andreas Tolias
Tel.: 001 713 798 4071
E-Mail: alexander.ecker@tuebingen.mpg.de
Philipp Berens
Tel: 07071 601-1775
E-Mail: philipp.berens@tuebingen.mpg.de
Prof. Dr. Matthias Bethge
Tel.: 07071 601-1770
E-Mail: mbethge@tuebingen.mpg.de
Dr. Susanne Diederich (Presse- & Öffentlichkeitsarbeit)
Tel.: 07071 601-333
E-Mail: presse@tuebingen.mpg.de
Das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik forscht an der Aufklärung von kognitiven Prozessen auf experimentellem, theoretischem und methodischem Gebiet. Es beschäftigt rund 325 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus über 40 Ländern und hat seinen Sitz auf dem Max-Planck-Campus in Tübingen. Das MPI für biologische Kybernetik ist eines der 80 Institute und Forschungseinrichtungen der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.

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