Forschungsreise: Auf der Suche nach den Triebfedern der Evolution

Prof. Dr. Ralf Sommer bei der Arbeit am Mikroskop Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie

Der Jahresanfang ist Reisezeit für die Wissenschaftler der Abteilung Integrative Evolutionsbiologie. Ziel ist die Tropeninsel La Réunion. Sie machen sich auf die Suche nach einem Käfer und seinem blinden Passagier, einem Fadenwurm namens Pristionchus pacificus.

Der Winzling, der gerade mal einen Millimeter misst, steht im Zentrum der Forschungsarbeit des Teams um Max-Planck-Direktor Ralf Sommer, der vor allem eines wissen will: Wie lässt die Evolution Vielfalt entstehen, und warum ist die Vielfalt so groß?

Die Vulkaninsel La Réunion ist noch ein recht junges Eiland. Sie erhob sich vor rund 2 Millionen Jahren aus dem Indischen Ozean. Das heißt, der Zeitraum, in dem sich hier Lebewesen angesiedelt und entwickelt haben, ist relativ begrenzt.

Das macht die Insel – ähnlich wie es die Lehrbücher auch von Charles Darwins Untersuchungen auf den Galapagos-Inseln schildern – zu einem regelrechten Freiluftlabor für Evolutionsforscher.

Pristionchus pacificus kam, soweit bislang bekannt, in mindestens drei voneinander unabhängigen Schüben auf die Insel – an Bord von drei verschiedenen Käferarten, die allesamt zur Familie der Scarabaeidae, der Blatthornkäfer zählen. Auch wenn die Käfer an viele Stellen auf der Insel leben, haben die Tübinger Wissenschaftler, für jede Käferart eine zentrale Fundstelle ausgemacht, die sie regelmäßig analysieren.

Alle drei sind mit Fadenwürmern besiedelt, darunter mehr oder weniger viele Vertreter des Wurms, der für die Arbeit der Forscher so entscheidend ist. „Unser wichtigster Fundort ist eine Wiese auf der Westseite der Insel – im Bergland auf etwa 1400 Metern Höhe“, sagt Sommer. „Auf dieser Wiese sind mehr als 90 Prozent des Nashornkäfers Oryctes borbonicus mit Pristionchus pacificus besiedelt. Das ist, soweit wir wissen, weltweit einzigartig.“

Der Käfer verbringt einen großen Teil seines Daseins als Engerling unter der Erde. Doch zwischen Dezember und Februar schwärmen die adulten Blatthornkäfer auf La Réunion aus.

Dann fliegt auch Sommer mit seinen Mitarbeitern auf die Insel. Neun Tage haben die Forscher in diesem Jahr Zeit, um Proben für ihre weitere Arbeit zu sammeln und vor Ort Untersuchungen anzustellen. Mindestens drei Abende werden sie besagter Wiese widmen.

Sie bauen Lichtfallen auf, Scheinwerfer hinter großen weißen Tüchern, um die sechsbeinigen Brummer mit den wissenschaftlich wertvollen Würmern an Bord anzulocken. Dann heißt es warten und Käfer sammeln.

Zwar lässt sich der Fadenwurm – ähnlich wie sein unter Biologen bestens bekannter Verwandter Caenorhabditis elegans – leicht im Labor züchten und analysieren. Aber Laboruntersuchungen sind für Evolutionsforscher nur die halbe Miete. „Wer wissen will, wie Evolution funktioniert, muss immer auch die Ökologie im Auge behalten, also die Interaktion mit der Umwelt“, erklärt Sommer.

Dazu gehört unbedingt das Wechselspiel zwischen Käfer und Wurm. Denn die Lebensweise des einen beeinflusst die des anderen. „Koevolution, also die gegenseitige Anpassung, ist ein wichtiger Motor für Entwicklung.“

Wurm und Käfer verbindet ein komplexes Miteinander, das bei weitem noch nicht vollständig verstanden ist. Das lebende Insekt beherbergt nur Fadenwürmer, die sich im so genannten Dauerstadium befinden, einem Ruhezustand, indem sie sich in eine wächserne Schutzschicht hüllen, die Mundöffnung verschließen und der Stoffwechsel beinahe zum Erliegen kommt.

Erst wenn der Käfer tot ist, erwacht Pristionchus pacificus wieder vollständig zum Leben. Doch wie erkennt der Fadenwurm eigentlich, dass sein Wirt tot ist? Und ist er auch in der Lage, tote Käfer zu orten, die sich in einer gewissen Distanz befinden? Solchen Fragen geht Tess Renahn, Doktorandin in Sommers Abteilung, seit mehreren Jahren vor Ort auf La Réunion nach.

Noch ein weiteres Vorhaben treibt die Forscher in diesem Jahr auf die Tropeninsel. Seit letztem Jahr kennen sie einen neuen interessanten Fundort für Pristionchus pacificus. Es handelt sich um Primärwald im Tiefland der Insel, einen von Menschen bislang unbeeinflussten Wald, den Botaniker erst jüngst entdeckt haben.

Gerade mal zwei Fußballfelder misst das kleine Stückchen Urwald, doch es weckt große Hoffnungen bei den Wissenschaftlern. Denn hier lebt Pristionchus pacificus auf einer anderen Gruppe von Käfern, die die Tübinger Forscher bislang nicht im Visier hatten.

„Und mit viel Glück lässt sich diese im Labor züchten“, sagt Matthias Hermann, der als Insekten- und Fadenwurmforscher die Exkursionsreisen koordiniert. Einen Versuch ist es zumindest wert, denn das würden den Wissenschaftlern erlauben, künftig einige Fragestellungen in Tübingen zu beantworten, die sie sonst nur im kurzen Zeitfenster der jährlichen Exkursion beackern können.

„Wir haben viel vor und unser Zeitplan ist wie bei jeder Exkursion sehr straff – da darf eigentlich nichts schiefgehen“, resümiert Sommer. „Denn wenn unsere Beute zu gering ist, oder es zu zeitlichen Verzögerungen kommt und unsere Proben verderben, müssen wir ein ganzes Jahr warten, bis die Käfer wieder ausschwärmen und wir erneut nach La Réunion fahren um neues Material zu sammeln.“

Prof. Dr. Ralf J. Sommer
Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie
Max-Planck-Ring 5
72076 Tübingen
ralf.sommer@tuebingen.mpg.de

http://tuebingen.mpg.de/en/home/top-stories/la-reunion-2020/ Volltext auf unserer Webseite mit einem Interview „Sieben Fragen an Prof. Ralf Sommer“ und weiteren Abbildungen

Media Contact

Dr. Stefanie Reinberger / Dr. Daniel Fleiter Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie

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