Erreichbare Dinge verarbeitet das Gehirn in speziellen Regionen

Schauen Mäuse durch 3D-Brillen auf nahe Objekte, werden in ihrem Gehirn Nervenzellen der RL-Region aktiv. (c) MPI für Neurobiologie, Julia Kuhl

Das Gehirn weiß in der Regel, wie groß der Aktionsradius seines Trägers ist. Dabei nutzt es ganz unterschiedliche Methoden, um die relevante Entfernung abzuschätzen. Eine davon ist die Tiefenwahrnehmung durch dreidimensionales Sehen mit zwei Augen.

„Kneift man ein Auge zu, wird es deutlich schwerer etwas punktgenau zu greifen“, verdeutlicht der Neurobiologe Mark Hübener. Diese 3D-Tiefenwahrnehmung wird von speziellen Nervenzellen verarbeitet.

Schauen beide Augen auf dieselbe Stelle, ergibt sich aus der Position der Augen ein kleiner Unterschied im Blickwinkel. Auf diesen Unterschied reagieren die 3D-Nervenzellen. Sie helfen dabei dreidimensional zu sehen, Tiefe zu erkennen und daraus Entfernungen zu berechnen.

Wie das Gehirn dies jedoch genau macht und Bereiche des Raums in Kategorien wie „erreichbar“, „nah“ oder „fern“ einteilt, ist weitgehend unerforscht.

„Auch das Mausgehirn hat diese 3D-Nervenzellen, wenn auch deutlich weniger als wir, da Mäuse aufgrund ihrer Augenstellung nur in einem kleinen Bereich dreidimensional sehen können“, weiß Hübener. Um die Rolle dieser Nervenzellen beim Wahrnehmen von „Raum“ zu erforschen, setzten die Forscher den Tieren 3D-Brillen auf. Dann zeigten sie ihnen sogenannte „Random Dot Stereogramme“.

„Manche kennen das Prinzip vielleicht noch aus Büchern wie „Das magische Auge“, die eine Zeit in Mode waren“, vermutet Hübener. „Man starrt eine Weile auf ein Bild mit anscheinend zufälligem Punktmuster, bis sich irgendwann eine dreidimensionale Struktur herausschält. Oder man setzt gleich eine 3D-Brille auf, die die zusammengehörenden Punkte in Verbindung bringt.“

Schauten die Mäuse durch die 3D-Brille, reagierten besonders viele Nervenzellen in einer kleinen, RL genannten Hirnregion auf die nun sichtbaren 3D-Strukturen. Die RL-Region liegt am Rand der visuellen Hirnrinde und ihre Funktion war bislang unklar. In seiner Studie konnte Alessandro La Chioma verschiedene Eigenschaften der ansässigen Nervenzellen identifizieren und die RL-Region als wichtiges Nah-Erkundungsgebiet des Gehirns eingrenzen.

Viele der 3D-Nervenzellen in der RL-Region erhalten ihre Informationen aus dem unteren Bereich des Sichtfeldes. Diese Zellen reagierten bevorzugt auf Objekte im nahen Bereich. „Solch eine Prägung geschieht wahrscheinlich durch Lernen, denn die Erfahrung zeigt, dass sich nahe Objekte meist im unteren Sichtbereich befinden“, erklärt Tobias Bonhoeffer, Koautor der Studie. Um solch einen Zusammenhang lernen zu können, braucht es jedoch Feedback von mehr als einem Sinn.

Die RL-Region erhält jedoch nicht nur Informationen aus dem visuellen Nahbereich – einige Nervenzellen reagieren auch auf Rückmeldungen der Tasthaare. „So könnte die RL-Region eine mit den Augen wahrgenommene Entfernung mit der Information zur Tastreichweite zum Objekt abgleichen“, so Hübener. „Aus diesen Erfahrungen könnte sich das Gehirn dann ein Bild der nahen Umwelt aufbauen, dass sich später dann auch auf weiter entfernte und abstraktere Dinge ausweiten ließe.“

KONTAKT
Dr. Stefanie Merker
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Tel.: 089 – 8578 3514
E-Mail: merker@neuro.mpg.de

Prof. Dr. Mark Hübener
Abteilung „Synapsen – Schaltkreise – Plastizität“ (Prof. Dr. Tobias Bonhoeffer)
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Tel.: 089 – 8578 3697
Email: mark@neuro.mpg.de

Alessandro La Chioma, Tobias Bonhoeffer und Mark Hübener
Area-specific mapping of binocular disparity across mouse visual cortex
Current Biology, online am 15. August 2019

http://www.neuro.mpg.de – Webseite des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie

Media Contact

Dr. Stefanie Merker Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Neues topologisches Metamaterial

… verstärkt Schallwellen exponentiell. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am niederländischen Forschungsinstitut AMOLF haben in einer internationalen Kollaboration ein neuartiges Metamaterial entwickelt, durch das sich Schallwellen auf völlig neue Art und Weise…

Astronomen entdecken starke Magnetfelder

… am Rand des zentralen schwarzen Lochs der Milchstraße. Ein neues Bild des Event Horizon Telescope (EHT) hat starke und geordnete Magnetfelder aufgespürt, die vom Rand des supermassereichen schwarzen Lochs…

Faktor für die Gehirnexpansion beim Menschen

Was unterscheidet uns Menschen von anderen Lebewesen? Der Schlüssel liegt im Neokortex, der äußeren Schicht des Gehirns. Diese Gehirnregion ermöglicht uns abstraktes Denken, Kunst und komplexe Sprache. Ein internationales Forschungsteam…

Partner & Förderer