Erblicher Darmkrebs: Molekulare Vielfalt mit klinischen Konsequenzen

Integratives Modell der Darmkrebs-Entstehung beim Lynch-Syndrom © 2018 UICC

Darmkrebs ist die zweithäufigste Krebsart und die dritthäufigste Ursache krebsbedingter Todesfälle weltweit. Das durchschnittliche Risiko, im Laufe des Lebens an Darmkrebs zu erkranken, beträgt in Deutschland ungefähr fünf Prozent. Eine erbliche Prädisposition stellt einen der wesentlichsten Faktoren dar, die das Darmkrebsrisiko deutlich steigern können.

Das Lynch-Syndrom ist das häufigste der erblichen Darmkrebs-Syndrome. Allein in Deutschland sind nach aktuellen Schätzungen ungefähr eine halbe Million Menschen vom Lynch-Syndrom betroffen.

Ein Lynch-Syndrom liegt dann vor, wenn eines von vier sogenannten MMR-Genen (Mismatch Repair-Genen, dt. Fehlpaarungsreparatur-Genen) von einer erblichen genetischen Veränderung (Keimbahn-Variante) betroffen wird. Diese Varianten führen dazu, dass die Reparatur von Fehlern im Erbgut nicht mehr korrekt funktioniert.

Lynch-Syndrom-Anlageträger haben daher ein deutlich erhöhtes Risiko von 50 Prozent, im Laufe des Lebens Darmkrebs zu entwickeln. Deswegen schlagen die aktuellen klinischen Richtlinien eine engmaschige regelmäßige Darmspiegelung (Koloskopie) vor.

Die Koloskopie ist sehr gut geeignet, um Vorstufen des Darmkrebses zu erkennen und zu entfernen, bevor es zu einem bösartigen Tumor kommt. Jedoch entwickeln Lynch-Syndrom-Anlageträger obgleich engmaschiger Darmspiegelung mit Entfernung von Polypen, d. h. Tumorvorstufen, manchmal Darmkrebs. Solche trotz regelmäßiger Vorsorgeuntersuchung entstandenen Tumoren nennt man „inzidente Tumoren“. Die Ursachen für inzidente Tumoren sind bisher nicht bekannt.

Eine Hypothese für die Entstehung inzidenter Tumoren ist die Existenz von Tumorvorstufen, die durch Darmspiegelung nicht erkannt werden können.

Die Wissenschaftler Matthias Kloor, vom Institut für Pathologie am Universitätsklinikum Heidelberg, und Hendrik Bläker, vormals am Institut für Pathologie der Charité Universitätsmedizin Berlin und seit 1. April 2019 Direktor des Instituts für Pathologie am Universitätsklinikum Leipzig, haben im Jahr 2012 erstmals die Existenz solcher Läsionen nachgewiesen (Kloor et al. Lancet Oncol 13:598-606, 2012).

Diese Läsionen sind rein morphologisch von der normalen Darmschleimhaut nicht zu unterscheiden, weisen aber auf der molekularen Ebene einen Verlust des entsprechenden Reparatur-Proteins auf. Man nennt sie daher „MMR-defiziente Krypten“. Das transformierende Potenzial solcher MMR-defizienter Krypten war bis jetzt unklar.

Im jüngst von der Wilhelm Sander-Stiftung geförderten Forschungsprojekt ist es den Forschern nun gelungen, Beweise dafür zu finden, dass MMR-defiziente Krypten tatsächlich bedeutsame Vorstufen für Darmkrebs beim Lynch-Syndrom darstellen.

Interessanterweise scheinen MMR-defiziente Krypten das Potenzial zu besitzen, sich auch ohne die Entstehung von sichtbaren Polypen, den klassischen Vorstufen des Darmkrebses, zu invasiven Tumoren weiterzuentwickeln (Ahadova, Galon et al. Int J Cancer 143(1):139-150, 2018).

Dies hat unmittelbare klinische Relevanz, da die Effektivität der Koloskopie als Präventionsmaßnahme somit nicht für alle Typen Lynch-Syndrom-assoziierter Tumoren gleich zu sein scheint (Engel, Ahadova, Seppälä et al. Gastroenterology 158(5):1326-1333, 2020).

Tatsächlich deuten die Ergebnisse des Forschungsprojekts an, dass sich die Mehrzahl der Darmtumoren beim Lynch-Syndrom initial aus MMR-defizienten Krypten entwickeln könnte. Die durch das Projekt gewonnenen Kenntnisse haben somit zu einem neuen Tumorentstehungsmodell geführt, das die molekulare Vielfalt der Lynch-assoziierten Tumoren unterstreicht (Abbildung, Ahadova, Galon et al. Int J Cancer 143(1):139-150, 2018). Die Ergebnisse bilden die Basis für neue Präventionsstudien und ermutigen zur Entwicklung wirksamerer Präventionsansätze für Patienten mit erblicher Krebsprädisposition.

Kontakt:

Henrike Boden
Wilhelm Sander-Stiftung
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit & Stiftungskommunikation
Tel.: +49 (0) 89 544187-0
Fax: +49 (0) 89 544187-20
E-Mail: boden@sanst.de

Wilhelm Sander-Stiftung: Partner innovativer Krebsforschung

Die Wilhelm Sander-Stiftung hat dieses Forschungsprojekt mit rund 220.000 Euro unterstützt. Stiftungszweck ist die Förderung der medizinischen Forschung, insbesondere von Projekten im Rahmen der Krebsbekämpfung. Seit Gründung der Stiftung wurden insgesamt rund 245 Millionen Euro für die Forschungsförderung in Deutschland und der Schweiz ausbezahlt. Damit ist die Wilhelm Sander-Stiftung eine der bedeutendsten privaten Forschungsstiftungen im deutschen Raum. Sie ging aus dem Nachlass des gleichnamigen Unternehmers hervor, der 1973 verstorben ist.

PD Dr. med. Matthias Kloor
Abteilung für Angewandte Tumorbiologie
Institut für Pathologie
Universitätsklinikum Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 224
69120 Heidelberg
Tel.: +49 (0) 6221-565210 / +49 (0) 6221-5635592
Fax: +49 (0) 6221-565981
E-Mail: matthias.kloor@med.uni-heidelberg.de
http://atb-heidelberg.de/team/matthiaskloor/

Prof. Dr. med. Hendrik Bläker
Direktor des Instituts für Pathologie
Liebigstraße 26
04103 Leipzig
Tel.: +49 (0) 341-97-15000
Fax: +49 (0) 341-97-15009
E-Mail: hendrik.blaeker@medizin.uni-leipzig.de
https://www.uniklinikum-leipzig.de/einrichtungen/pathologie/unser-team

Dr. Aysel Ahadova
Abteilung für Angewandte Tumorbiologie
Institut für Pathologie
Universitätsklinikum Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 224
69120 Heidelberg
Tel.: +49 (0) 6221-565210 / +49 (0) 6221-5635592
Fax: +49 (0) 6221-565981
E-Mail: aysel.ahadova@med.uni-heidelberg.de
http://atb-heidelberg.de/team/ayselahadova/

Prof. Dr. med. Magnus von Knebel Doeberitz
Ärztlicher Direktior
Abteilung für Angewandte Tumorbiologie
Institut für Pathologie
Universitätsklinikum Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 224
69120 Heidelberg
Tel.: +49 (0) 6221-564220
Fax: +49 (0) 6221-565981
E-Mail: magnus.knebel-doeberitz@med.uni-heidelberg.de
http://atb-heidelberg.de/team/magnusvonknebeldoeberitz/

Kloor M, Huth C, Voigt AY, Benner A, Schirmacher P, von Knebel Doeberitz M, Bläker H. Prevalence of mismatch repair-deficient crypt foci in Lynch syndrome: a pathological study. Lancet Oncol. 2012 Jun;13(6):598-606. doi: 10.1016/S1470-2045(12)70109-2. Epub 2012 May 1.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22552011

Ahadova A, Gallon R, Gebert J, Ballhausen A, Endris V, Kirchner M, Stenzinger A, Burn J, von Knebel Doeberitz M, Bläker H, Kloor M. Three molecular pathways model colorectal carcinogenesis in Lynch syndrome. Int J Cancer. 2018 Jul 1;143(1):139-150. doi: 10.1002/ijc.31300. Epub 2018 Feb 23.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29424427

Pfuderer P, Ballhausen A, Seidler F, Stark H, Grabe N, Frayling IM, Ager A, von Knebel Doeberitz M, Kloor M, Ahadova A. High endothelial venules are associated with microsatellite instability, hereditary background and immune evasion in colorectal cancer. Br J Cancer. 2019 Aug;121(5):395-404. doi: 10.1038/s41416-019-0514-6. Epub 2019 Jul 30.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31358939

Engel C, Ahadova A, Seppälä T, Aretz S, Bigirwamungu-Bargeman M, Bläker H, Bucksch K, Büttner R, de Vos Tot Nederveen Cappel W, Endris V, Holinski-Feder E, Holzapfel S, Hüneburg R, Jacobs MAJM, Koornstra JJ, Langers AM, Lepistö A, Morak M, Möslein G, Peltomäki P, Pylvänäinen K, Rahner N, Renkonen-Sinisalo L, Schulmann K, Steinke-Lange V, Stenzinger A, Strassburg CP, van de Meeberg PC, van Kouwen M, van Leerdam M, Vangala DB, Vecht J, Verhulst ML, von Knebel Doeberitz M, Weitz J, Zachariae S, Loeffler M, Mecklin JP, Kloor M, Vasen HF; German HNPCC Consortium, the Dutch Lynch Syndrome Collaborative Group, and the Finnish Lynch Syndrome Registry. Associations of Pathogenic Variants in MLH1, MSH2, and MSH6 With Risk of Colorectal Adenomas and Tumors and With Somatic Mutations in Patients With Lynch Syndrome. Gastroenterology. 2020 Apr; 158(5): 1326–1333. doi: 10.1053/j.gastro.2019.12.032. Epub 2020 Jan 8.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31926173

https://wilhelm-sander-stiftung.de/
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/newsroom/
http://atb-heidelberg.de/projects/msicancer/pathogenesisofmsicancers/

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