Computersimulation ersetzt Labor-Experimente: Essener Chemiker "errechnet" neue Putzmittel

Wer beim Frühjahrsputz Erfahrung hat, weiß: Schmutzige Fußböden blitzblank zu schrubben, ist Knochenarbeit. Aber Erleichterung steht ins Haus: Dr. Hubert Kuhn, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Physikalische Chemie an der Universität Essen, will dem Bad – quasi mit einem „Wisch und weg“ – zu porentiefer Reinheit verhelfen. Im Bundesforschungsministerium warb er dafür Fördermittel in Höhe von fast 264 000 Euro ein.

Im Rahmen des in Bonn aufgelegten Programms „Grenzflächenhaftung in technischen Systemen“ will Kuhn mit seiner Arbeitsgruppe in Labor- und Computerräumen im Hochschulgebäude an der Schützenbahn in den nächsten drei Jahren „neue Tenside zur Enthaftung von Kontaminationen auf nano- und mikrostrukturierten Oberflächen“ entwickeln. Man kann auch – viel einfacher – sagen: Hubert Kuhn will trennen, was nicht zusammen gehört.

Partner dafür hat er in seinem unmittelbaren Nachbarn, der Goldschmidt AG (Degussa), dem Fliesenhersteller Villeroy und Boch und einem Groß-Computer gefunden. Der wird zur Zeit in der bisherigen Maschinehalle an der Schützenbahn aus den Einzelteilen von 128 handelsüblichen Rechnern zusammen geschraubt. Miteinander vernetzt und mit einer Software ausgestattet, die sie immer dann in Betrieb bringt, wenn sie gerade gebraucht werden, erreichen die Maschinen gemeinsam eine Rechenleistung von 128 Gigaflops pro Sekunde. Damit sind sie „listenfähig“, denn im Verbund gehören sie zu den 500 schnellsten Rechnern der Welt. „Nur ein Bruchteil so teuer wie ein herkömmlicher Großrechner“, freut sich Kuhn über den platzgreifenden Baukasten, der in der Maschinenhalle seinen idealen Standort gefunden hat.

Das Land Nordrhein-Westfalen bezahlt den Rechner und auch die dunkelroten Vitrinen, in denen die Prozessoren – jeweils acht übereinander – akkurat gestapelt sind. Die 110 000 Euro sollen allerdings nicht nur die Entwicklung neuer Tenside, sondern auch die Weiterentwicklung des von Professor Heinz Rehage in der Physikalischen Chemie entworfenen Anti-Virus-Handschuhs befördern. Der Handschuh soll Chirurgen, die sich beim Nähen einer Wunde verletzen, vor vergiftetem Patientenblut schützen. Das Prinzip: Ein in eine Kautschukmatrix eingebettetes Viruzid tötet in den Handschuh eindringende Viren, etwa Hepatitisviren, sofort ab. Das Problem: Die Lebensdauer des Viruzids muss deutlich erhöht werden, damit der Handschuh auch nach längerer Lagerung noch verwendet werden kann. Mit Hilfe des Großrechners sollen dazu geeignete Polymere entwickelt werden.

Was heißt aber Polymere entwickeln? Oder Tenside entwickeln? Kuhn setzt dabei nicht auf das Experiment, sondern auf die Simulation. Wie der Autokonstrukteur sein neues Modell zunächst nur virtuell baut und in vielfältigen Varianten erprobt, „baut“ Kuhn Polymere und Tenside am Computer. Am Rechner simuliert er das Verhalten der Moleküle und beobachtet sie, um dann Vorschläge für die Entwicklung neuer Produkte zu entwickeln.

Villeroy und Boch, aber auch andere haben sich beim Nachdenken über solche Produkte an das Lotus-Blatt erinnert, das sich mit der fraktalen Struktur seiner Oberfläche selbst reinigt – weil die Luft in den Poren wie ein Imprägniermittel wirkt. Fliesen, aber auch Badewannen und Spülbecken, die sich selbst reinigen, sind bereits auf dem Markt. So zuverlässig wie vordem die Heinzelmännchen funktioniert der Lotus-Blatt-Effekt aber nicht. Längerfristig bildet sich ein grauer Belag, der viel Chemie und Körperkraft verlangt, bevor er verschwindet. Denn Fliesen-Oberflächen müssen, sollen sie Tritt-Sicherheit bieten, porös – nano- oder mikrostrukturiert – sein. Aber fast zu drei Vierteln bestehen herkömmliche Reinigungsmittel aus anionischen Tensiden, die nicht geeignet sind, die Oberflächenspannung des Putzwassers so weit zu verringern, dass der Schmutz in den Poren benetzt und herausgelöst werden kann. Die „Spreitung“ des Wassertropfens zu erhöhen ist Kuhns Ziel. Statt in Experimenten teure Chemikalien zu verbrauchen, deren Entsorgung gleichfalls teuer ist, lässt er den Rechner Tenside entwickeln.

Diese werden im Forschungslabor bei Goldschmidt synthetisiert. Villeroy und Boch liefert die Fliesen, Kuhns Arbeitsgruppe verschmutzt sie „normgerecht“, besprüht sie mit Proben der verschiedenen Substrate und misst mit optischem Gerät die Spreitung. Möglichst groß muss sie sein, dann kommt Kuhn seinem Ziel nahe: Ein bisschen Chemie aufs Tuch, einmal wischen, und porentief rein strahlt das Bad.

Das Bundesforschungsministerium hatte solche Bequemlichkeit bei der Zustimmung zu Kuhns Förderantrag kaum im Sinn. Überzeugend ist der ökologische Effekt. Denn heutzutage verbraucht man mehr Putzmittel, als es der Haushaltskasse bekommen und den Wasseraufbereitern recht sein kann.

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Monika Roegge idw

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