Die "Lupe im Kopf": Wie die Aufmerksamkeit die Sinne schärft

Nur einen Bruchteil der visuellen Informationen, die auf die Netzhaut fallen, nimmt der Mensch bewusst wahr – nur wenige Bildbereiche erregen die Aufmerksamkeit. Dass die Aufmerksamkeit auch das Sehvermögen in dem entsprechenden Bildbereich verbessert, haben nun Wissenschaftler um Prof. Stefan Treue, dem Leiter der Abteilung Kognitive Neurowissenschaften am Deutschen Primatenzentrum und Wissenschaftler am Bernstein Center for Computational Neuroscience herausgefunden. Sie untersuchten an Makkaken die Aktivität bestimmter Nervenzellen, die an den ersten Schritten der Verarbeitung visueller Informationen beteiligt sind. Dabei stellten sie fest, dass jene Zellen stärker auf visuelle Informationen aus dem Bereich des Gesichtsfeldes reagieren, dem das Tier seine Aufmerksamkeit schenkt, auch ohne dass es seine Blickrichtung ändert.

Die Arbeiten des Teams aus Thilo Womelsdorf, Katharina Anton-Erxleben, Florian Piper und Stefan Treue werden am 13.8. in der renommierten Wissenschaftszeitschrift „Nature Neuroscience“ veröffentlicht.

Spricht uns eine Person an, sehen wir zu ihr herüber. Was unsere Aufmerksamkeit erregt, wollen wir auch genau betrachten. Aber schon bevor wir die Blickrichtung wechseln, sorgen Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung für eine bessere Sehfähigkeit in dem visuellen Bereich unseres Interesses, wie die Wissenschaftler um Treue nun zeigen konnten. „Eine Verbesserung der Sehfähigkeit im Interessenbereich – auch ohne sofortige Augenbewegung – ist für die visuelle Informationsverarbeitung in einer natürlichen Umgebung von großer Bedeutung“, erklärt Treue. Wenn mehrere Objekte gleichzeitig das Interesse erregen, müssen diese nicht eines nach dem anderen durch Änderung der Blickrichtung abgetastet werden. Das visuelle System konzentriert bereits im Vorfeld die Sehschärfe auf die ihm wichtig erscheinenden Bereiche. Im laufenden Verkehr können wir so Verkehrsschilder am Straßenrand erkennen, ohne dabei den Blick von der Strasse wenden zu müssen.

Die Augen fangen ständig Unmengen an Informationen ein. In verschiedenen aufeinander folgenden Verarbeitungsebenen wird diese Fülle von Informationen auf ihre aktuelle Relevanz hin analysiert und reduziert. Anderenfalls wäre die Verarbeitungskapazität des Gehirns überfordert. Deshalb wird nicht jeder Bildpunkt an die nächste Verarbeitungsebene weitergegeben, sondern zum Beispiel nur Informationen über den Verlauf von Kanten und Flächen oder über die Bewegungsrichtung verschiedener Bildbereiche. Erst nach Abstraktion der visuellen Informationen werden sie in höhere Ebenen des Gehirns weitergeleitet, wo sie als Bilder „erkannt“ werden.

Lange Zeit glaubte man, dass eine bewusste Entscheidung darüber, auf welches Objekt sich die Aufmerksamkeit richtet, nur in den obersten Verarbeitungsebenen getroffen wird – als Filter gewissermaßen, der nur relevante Informationen ins Bewusstsein lässt. Treue und sein Team konnten nun erstmals überzeugend und mit einer Fülle von Messdaten zeigen, dass die Aufmerksamkeit bereits auf den unteren Bildverarbeitungsebenen zugreift und dort, im wahrsten Sinne des Wortes, die „Sinne schärft“.

Für ihre Versuche trainierten die Wissenschaftler Affen, eine komplexe Aufgabe zu bewältigen. Die Affen richteten ihr Auge auf einen bestimmten Bildpunkt, während sie ihre Aufmerksamkeit einem anderen Reiz in der Peripherie ihres Gesichtsfeldes schenkten. Gleichzeitig wurde die Aktivität von Nervenzellen im Areal „MT“ des visuellen Kortex gemessen, einer gut untersuchten Gehirnregion, in der Zellen auf die Wahrnehmung von Bewegungen spezialisiert sind.

Je nachdem, auf welchen Bildbereich das Tier seine Aufmerksamkeit richtete, änderten die Zellen in der Region MT ihr Verhalten. Auf Bewegungen im Aufmerksamkeitsbereich reagierten die Zellen stärker als auf Bewegungen in anderen Bereichen – ohne dass das Tier dabei die Augen bewegte. Damit konnten die Wissenschaftler zeigen, dass bewusste Prozesse die Aktivität von Zellen in der Sehrinde modulieren und dynamisch kontrollieren, welche Bildbereiche detailliert analysiert werden.

In Zukunft möchten Treue und seine Kollegen den Einfluss der Aufmerksamkeit auch auf die neuronale Aktivität von Zellen in anderen Ebenen der visuellen Verarbeitung analysieren. Daraus erhoffen sie sich einen besseren Einblick in den genauen Mechanismus der Sinnesschärfung durch die Aufmerksamkeit. Ein genaues Verständnis der Aufmerksamkeitssteuerung hat viele mögliche Anwendungsbereiche – sowohl in der Medizin als auch in der Technik. So könnte es auf lange Sicht bei der Entwicklung von Therapien bei Aufmerksamkeitsstörungen helfen oder die Entwicklung von künstlichen Sehsystemen voranbringen.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Stefan Treue
Deutsches Primatenzentrum
Kellnerweg 4
37077 Göttingen
Tel: 0551 – 3851 117
Email: treue@gwdg.de
Die Bernstein Centers for Computational Neuroscience (BCCN) sind vier vom BMBF geförderte Zentren in Berlin, Freiburg, Göttingen und München. In dem interdisziplinären Netzwerk werden Experiment, Datenanalyse und Computersimulation auf der Grundlage wohl definierter theoretischer Konzepte vereint. Zentrales Anliegen der Computational Neuroscience ist die Aufklärung der neuronalen Grundlagen von Hirnleistungen, die so z.B. zu neuen Therapien bei neurodegenerativen Krankheiten und Innovationen in der Neuroprothetik führen.

Das BCCN Göttingen ist ein Verbundprojekt der Georg-August-Universität Göttingen, des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation, des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie, dem Deutschen Primaten Zentrum und der Otto Bock HealthCare GmbH.

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Dr. Tobias Niemann idw

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