Abwehr mobilisiert – Kräfte geschwächt: Die Anregung des Immunsystems kann paradoxe Folgen haben

Substanzen, die unsere Erregerabwehr aktivieren, können gleichzeitig zu einer vorübergehenden Schwächung der Abwehrkräfte führen. Diesen paradoxen Effekt haben Wissenschaftler der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF) in Braunschweig am Beispiel des Moleküls TLR7 beobachtet, eines wichtigen Bestandteils des Immunsystems. Wird TLR7 durch einen Wirkstoff künstlich gereizt, verstärkt es zwar Abwehrreaktionen in der Haut, führt aber zugleich für mindestens 24 Stunden zu einer gravierenden Immunschwäche. Seine Ergebnisse beschreibt das Forscher-Team, dem neben GBF-Wissenschaftlern auch Kollegen aus Basel, Münster und Essen angehören, demnächst in der Fachzeitschrift „Blood“.

„Das Immunsystem hat bestimmte angeborene Antennen-Moleküle. Sie erkennen Strukturen, die für Bakterien und Viren typisch sind“, erklärt der Projektleiter, GBF-Forscher Dr. Matthias Gunzer. „Sie versetzen den Körper in einen Alarmzustand, sobald sie diese Erreger-Komponenten vorfinden.“

Vom Blut ins Gewebe: Immunzellen wandern ab

Wesentliche Bestandteile dieser angeborenen Grundausstattung des Immunsystems sind die Toll-like-Rezeptoren oder TLR: Proteine auf den Oberflächen bestimmter Zellen, die nach Erreger-Bestandteilen „Ausschau halten“. Einen dieser Rezeptoren, den TLR7, nahmen Gunzer und seine Kollegen ins Visier. Sie stimulierten den TLR7 von Mäusen mit einem chemisch hergestellten Wirkstoff, den sie den Tieren in die Blutbahn injizierten. Ihr Ergebnis: „Immunvorgänge in der Haut der Tiere wurden verbessert und beschleunigt“, berichtet Gunzer. „Dafür fand man im Blut der Mäuse für 24 Stunden kaum Abwehrzellen. Sie erlitten eine vorübergehende Immunschwäche.“ Zwei Effekte, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, sich aber beide durch die Stimulierung von TLR7 erklären lassen.

Die Forscher entdeckten nämlich, dass TLR7 nicht nur auf Immunzellen, sondern auch auf den Zellen von Blutgefäßen sitzt. Bei Stimulierung werden die Wände der Adern an den betreffenden Stellen durchlässig; Abwehrzellen können hier die Blutgefäße durchdringen und in das Körpergewebe gelangen. „Das ist bei lokal begrenzten Infektionen sinnvoll“, erklärt Gunzer. „Normalerweise befinden sich, wenn TLR7 auf Blutgefäßen ein Signal empfängt, im Gewebe dahinter die Erreger, gegen die die Abwehrzellen vorgehen müssen. Aber wenn diese Wirkung überall im Körper auftritt, wie bei unserem Versuch, dann verlassen fast alle Immunzellen die Blutbahn. Die Festung ist sozusagen unbewacht und das Immunsystem auf gefährliche Weise geschwächt – jedenfalls zeitweilig.“

Weil TLR-stimulierende Wirkstoffe für medizinische Zwecke geeignet sind, etwa zur Bekämpfung von Infektionen oder um die Wirkung von Impfstoffen zu verstärken, sieht Gunzer praktische Konsequenzen aus seiner Arbeit: „Wenn man TLR7-Stimulanzien systemisch verabreicht, also ins Blut spritzt und damit im ganzen Körper verteilt, muss man wissen, dass die Patienten dann erst einmal ein erhöhtes Infektionsrisiko haben könnten. Man muss ihren Zustand also sorgfältig überwachen und, falls nötig, gezielt gegensteuern.“

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Manfred Braun idw

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