Genfamilie führt auf eine neue Spur zur Entstehung von Krebs

So winzig Zellen sind, besitzen sie doch ein eigenes Recyclingsystem, mit dem Eiweiße und ganze Zellorgane abgebaut werden können. Autophagie nennen Forscher diesen Prozess. Die Tübinger Zellbiologin Dr. Tassula Proikas-Cezanne hat eine neue Genfamilie, welche die Bauanleitungen von Autophagie-Werkzeugen enthält, untersucht und dabei eine Spur zur Entstehung von Krebstumoren gefunden.

Fehlreguliertes Recyclingsystem im Verdacht – Warum Zellen sich selbst verdauen

Das Erbgut des Menschen wird bald vollständig entziffert sein. Doch viel spannender als die bloße Auflistung der endlosen Reihen der Genbausteine ist der nächste Schritt: die Erforschung der Funktion der einzelnen Gene. Gene dienen der Zelle als Baupläne, nach deren Anleitung sie Eiweiße zusammenbaut. Die wissenschaftliche Arbeit von Dr. Tassula Proikas-Cezanne hat nun gezeigt, dass eine neue Gruppe strukturell verwandter Eiweiße mit dem Namen WIPI beim Menschen eine wichtige Rolle im Prozess der Autophagie spielt. Durch Autophagie, wörtlich das „Selbstfressen“, verdaut die Zelle Eiweiße oder auch funktionsunfähige Zellorgane, um die Einzelteile als Baustoffe wiederzuverwenden. Die Tübinger Wissenschaftlerin hat außerdem deutliche Hinweise dafür gefunden, dass eine fehlregulierte Autophagie an der Entstehung von Krebstumoren beteiligt sein könnte. Ihre Forschungsergebnisse werden mit Kollegen vom Institut für Zellbiologie der Universität Tübingen, Anja Gaugel und Prof. Alfred Nordheim, und vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Tancred Frickey und Prof. Andrei Lupas, jetzt in der neuesten Ausgabe des internationalen Fachjournals ONCOGENE veröffentlicht (ONCOGENE 16.12.04, Ausgabe 23, Nummer 58).

Trotz der irreführenden Bezeichnung ist die Autophagie kein krankhafter Prozess – im Gegenteil, er muss in allen gesunden Zellen des Körpers ablaufen, um Eiweiße oder Organellen, die winzigen Zellorgane, aus dem Verkehr zu ziehen und zu recyceln. „Die Autophagie wird auch gezielt eingeschaltet, wenn die Zelle wenig Nährstoffe zur Verfügung hat. Sie kann Bausteine und Energie dann für die überlebensnotwendigen Vorgänge gebrauchen“, erklärt Alfred Nordheim. Forscher schätzen, dass 99 Prozent aller Eiweiße, die meist als biochemische Werkzeuge in der Zelle fungieren, durch Autophagie abgebaut werden. Durch Abbau kann die Zelle auch die Arbeitszeit der Eiweiß-Werkzeuge regulieren. Wenn zum Beispiel die Mitochondrien, Organellen, die auch als Kraftwerke der Zelle bezeichnet werden, geschädigt sind, können sie gefährliche Radikale freisetzen. Diese können Veränderungen in den Genen verursachen. „Wenn die Autophagie richtig funktioniert, werden die beschädigten Mitochondrien in eine Membran eingeschlossen und darin von speziellen Eiweiß-Werkzeugen auseinander genommen, die Zelle überlebt“, sagt Nordheim. Ist die Zelle stark geschädigt, kann die Autophagie dazu beitragen, sie ganz abzubauen. Die Zelle begeht dann sozusagen einen geregelten Selbstmord. Hier sehen die Forscher eine wahrscheinliche Verbindung zur Entstehung von Krebs: Wenn die Prozesse der Autophagie gestört sind, werden geschädigte, aber noch teilungsfähige Zellen nicht beseitigt und könnten zu Tumoren auswachsen.

Tatsächlich hat Tassula Proikas-Cezanne beim Vergleich normaler Zellen von Krebspatienten mit Zellen aus den Tumoren festgestellt, dass die WIPI-Gene bei manchen Krebsarten fehlreguliert waren. Der Name WIPI dieser Genfamilie leitet sich aus der englischen Bezeichnung der zugehörigen Eiweiße ab, die charakteristischerweise mit Phospholipiden interagieren können (WD-repeat protein interacting with phospholipidinoside – WIPI). „Eine Gruppe der WIPI-Gene wurde in den Tumorzellen bei Haut- und Gebärmutterkrebs deutlich häufiger abgelesen. Das Ablesen der anderen WIPI-Gengruppe erscheint in Tumorzellen des Bauchspeicheldrüsen- und Nierenkrebses unterdrückt. Diese Beobachtungen müssen nun genauer untersucht werden, aber interessant ist der Zusammenhang mit der Autophagie: Mindestens eines der WIPI-Eiweiße ist an Autophagie-Prozessen in menschlichen Zellen beteiligt“, fasst Proikas-Cezanne ihre Beobachtungen zusammen. Die Tübinger Forscher gehen davon aus, dass die Prozesse der Autophagie die Tumorbildung erst unterdrücken und dann begünstigen können. Andere Wissenschaftlerteams haben mit dem Beclin-Gen ebenfalls eine Verbindung zwischen Autophagie und Tumorbildung gefunden. Darüber hinaus scheint auch eine Verbindung zwischen Fehlern in der Regulation der Autophagie und neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen Nervenzellen zerstört werden, wie zum Beispiel Chorea Huntington (Veitstanz) oder Alzheimer, zu bestehen.

Wie sich bei ganzen Lebewesen aus den Abstammungslinien zum Beispiel vom Ein- zum Vielzeller oder vom Affen zum Menschen Stammbäume zeichnen lassen, kann man auch einzelne Gene nach Abstammungslinien ordnen. Einen solchen Stammbaum haben Tassula Proikas-Cezanne und Alfred Nordheim in Zusammenarbeit mit Tancred Frickey und Andrei Lupas für die WIPI-Gene erstellt. Unterschiedliche Gene, die sich im Laufe der Zeit aus einem gemeinsamen Vorläufer-Gen entwickelt haben, können die Forscher an ähnlichen oder übereinstimmenden Sequenzbereichen als Verwandte identifizieren. „Auch Würmer und Pflanzen haben WIPI-Gene und nutzen den Prozess der Autophagie. Der Recyclingmechanismus ist sehr früh in der Evolution entstanden und ist in der Hefe gut untersucht“, sagt Proikas-Cezanne. Die WIPI-Gene kommen in allen Organismen von der einzelligen Hefe über Pilze und Fruchtfliege bis hin zu Wirbeltieren vor. „Zum Beispiel kann der Wurm Caenorhabditis elegans, ein genetisch gut erforschtes Tier, sich in Hungerzeiten zurück in eine Art Dauerlarve verwandeln und so längere Zeit überleben. Der Dauerzustand wird ebenfalls durch Autophagie eingeleitet“, erklärt Nordheim. Auch die dreidimensionale Struktur der WIPI-Eiweiße hat sich über extrem lange Zeiträume der Evolution erhalten, sie erinnert an einen Propeller mit sieben Rotorblättern. „Wenn Gene beziehungsweise die durch sie codierten Eiweiße in ihrer Struktur so lange überdauern, deutet das prinzipiell auf eine schwer entbehrliche Funktion hin“, sagt der Wissenschaftler.

Die Tübinger Zellbiologen wollen nun vor allem der heißen Spur des Zusammenhangs zwischen der Regulierung der WIPI-Gene und der Tumorbildung nachgehen. Denn möglicherweise hätte man damit einen neuen Ansatzpunkt, um Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung von Krebs zu nehmen. Die Universität, berichten die Forscher, hat über die WIPI-Gene ein Patent beim deutschen Patentamt in München angemeldet, um die mögliche Nutzung der Erkenntnisse in der Biotechnologie und pharmazeutischen Industrie verwerten zu können. (6196 Zeichen)

Nähere Informationen:

Dr. Tassula Proikas-Cezanne, Tel. 07071/29788-95, E-Mail: tassula.proikas-cezanne@uni-tuebingen.de
Prof. Alfred Nordheim, Tel. 07071/29788-97, E-Mail: alfred.nordheim@uni-tuebingen.de

Interfakultäres Institut für Zellbiologie
Abteilung Molekularbiologie
Auf der Morgenstelle 15, 72076 Tübingen
Fax 07071/295359

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Michael Seifert idw

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