Stammzellen lassen Geweihknochen wachsen

Verlorene Körperteile vollständig oder zumindest teilweise ersetzen? Nur sehr wenige höhere Organismen haben in der Natur diese Fähigkeit. Säugetiere sind generell nicht in der Lage, Körperteile vollständig zu regenerieren. Die einzige Ausnahme findet sich bei der Regeneration des Geweihknochens der Hirsche (Cerviden).

In der aktuellen Ausgabe des Online-Journals Public Library of Science (PLoS) ONE (30. April 2008, http://www.plos.org/press/pone-03-04-rolf.pdf ) berichten Dr. Hans Joachim Rolf und seine Kollegen von der Abteilung Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Göttingen gemeinsam mit Kooperationspartnern von der Universität Hildesheim über das Wachstum und die Regeneration des Geweihknochens mit Hilfe von im Geweihansatz (Rosenstock) vorhandenen Stammzellen. Die Göttinger Studien verstärken die Hypothese, dass dem Wachstum des primären Geweihknochens wie dem Prozess der jährlichen Geweihknochenregeneration eine periodische Aktivierung von Stammzellen/Vorläuferzellen zugrunde liegt. Das Verständnis der Mechanismen, die diesen einzigartigen Regenerationsprozess verursachen und regulieren, könnte einen wichtigen Beitrag im Rahmen des stark anwachsenden Forschungsgebietes der regenerativen Medizin leisten. Die Forschungsarbeiten werden seit etwa drei Jahren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

Das jährliche Erneuern der Geweihknochenstrukturen ist das einzige bekannte Beispiel im Tierreich, bei dem ein ausgewachsenes Säugetier einen Körperteil in einem relativ kurzen Zeitraum vollständig wiederherstellen kann. Aus diesem Grund ist der Geweihknochen ein höchst interessantes Studienobjekt für Wissenschaftler, die sich mit Fragen zur Regeneration von Geweben und Körperteilen beschäftigen. In diesem Zusammenhang werden seit längerem die Beteiligung von sogenannten Vorläuferzellen, die zum Beispiel durch „Umprogrammierung“ von bereits differenzierten Zellen des Körpergewebes entstehen sollen, oder eine mögliche Aktivierung von im Gewebe „ruhenden“ Stammzellen diskutiert.

Das Geweih der Hirsche sitzt auf knöchernen Stirnzapfen, die als 'Rosenstock' bezeichnet werden. In einem jährlichen Zyklus fallen die Geweihe des Vorjahres von der Stirn des Tieres ab (Geweihabwurf). An der Spitze der Stirnzapfen bleiben dabei offene Wunden zurück. Die Wundheilung und die Bildung der gleichzeitig entstehenden „Gewebeknospen“, aus denen neuer Geweihknochen hervorgeht, vollziehen sich in bemerkenswerter Geschwindigkeit. Bei größeren Arten, wie beim Rothirsch (Cervus elaphus), entsteht neues Knochengewebe mit einer Wachstumsgeschwindigkeit von etwa einen Zentimeter pro Tag.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannten Biologen und Geweihforscher: Mit der Aufklärung der Mechanismen, die für die jährliche Geweihregeneration verantwortlich sind, kann ein wertvoller Beitrag auf dem Gebiet der Regenerationsforschung geleistet werden. Die Forschungen am regenerierenden Geweihknochen können dazu beitragen, die Frage zu beantworten: Warum ist es für Säugetiere unmöglich, verlorene Gliedmaßen zu ersetzen? Erst in jüngster Zeit wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Geweihregeneration als sogenannter stammzell-basierter Prozess anzusehen sei.

Im Rahmen ihrer Forschungsprojekte zum Hirschgeweih hat nun die Göttinger Arbeitsgruppe um den Biologen Dr. Hans Joachim Rolf Stammzellen/Vorläuferzellen im 'Rosenstock' und im Gewebe des primären und regenerierenden Geweihknochens bei Damhirschen (Cervus dama) nachgewiesen. Damit konnten sie zum ersten Mal gesicherte Erkenntnisse präsentieren, die auf die Existenz von sogenannten „Stammzell-Nischen“ im 'Rosenstock' und im wachsenden Geweihknochen von Hirschen hindeuten. Die Göttinger Wissenschaftler haben im Geweihknochen gezielt nach Zellen gesucht, die sich mit bekannten Oberflächen-Markern für Stammzellen/Vorläuferzellen markieren lassen. Solche Zellen wurden zunächst im Knochengewebe lokalisiert, anschließend mit modernen Methoden isoliert und dann unter verschiedenen Laborbedingungen weitergezüchtet. Die Wachstums- und Differenzierungseigenschaften dieser Zellkulturen wurden dann eingehend untersucht.

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie ist der Nachweis von STRO-1+ Zellen in unterschiedlichen Bereichen des Knochengewebes im 'Rosenstock', primären und regenerierenden Geweih von Damhirschen. Zellen, die sich mit dem Oberflächenmarker STRO-1 markieren lassen, werden nach aktuellem Wissensstand als sogenannte „multipotente“ Vorläuferzellen angesehen, aus denen verschiedenste Zelltypen entstehen können. Die von Dr. Rolf und seinen Kollegen beschriebenen Experimente untermauern die Hypothese, dass es sich bei der jährlichen Geweihregeneration insgesamt um einen stammzell-basierten Regenerationsprozess handeln muss. Allem Anschein nach liegt die Ursache für die besonderen Fähigkeiten des Geweihknochengewebes im höchst komplizierten Zusammenwirken verschiedener Zelltypen. Dabei sind offensichtlich Stammzellen/Vorläuferzellen erheblich an der Geweihregeneration beteiligt.

Zudem bestätigen die vorgelegten Ergebnisse die Vermutung, dass die jährliche Regeneration des Geweihknochens mit einer Vermehrung von Stammzellen/Vorläuferzellen beginnt und diese an der Geweihbasis in der Knochenhaut (periost) des 'Rosenstocks' angesiedelt sind. In neueren wissenschaftlichen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Stammzell-Populationen im Körper in sogenannten „Nischen“ existieren, das sind spezielle Bereiche in den Körpergeweben, die bei Bedarf für notwendige Geweberegenerationen aktiviert werden können.

Die Göttinger Wissenschaftler nehmen deshalb an, dass auch bei Hirschen so eine „Stammzell-Nische“ in der Knochenhaut des Stirnzapfens vorhanden ist und dass die jährliche Regeneration des Geweihs von einer periodischen Aktivierung dieser Stammzel-len/Vorläuferzellen abhängt.

FAZIT
Die Arbeitsgruppe um Dr. Hans Joachim Rolf hat nun zum ersten Mal nachgewiesen, dass im Rosenstock und im Geweihknochen von Hirschen Stammzellen/Vorläuferzellen vorhanden sind. Ihre Experimente haben gezeigt, dass die mit verschiedenen Stammzell-Markern selektierten Zellen im Labor getrennt kultiviert werden können. Diese Vorläufer-Zellkulturen sind in der Lage, sich zu reifen Knochenzellen und sogar zu Fettzellen weiter zu entwickeln.

Die Ergebnisse der vorgestellten Studie zeigen, dass unter bestimmten Bedingungen bei einem erwachsenen Säugetier neben einer begrenzten Geweberegeneration auch die Regeneration einer kompletten Organstruktur auf der Basis eines stammzell-basierten Prozesses möglich sein kann. Aus diesem Grund ist das Geweih der Hirsche nicht nur für Veterinärmediziner und Hirschforscher, sondern auch für Stammzell-Forscher, Zellbiologen und Wissenschaftler in der medizinischen Forschung ein höchst interessantes Modell für die Grundlagenforschung im Bereich der Regeneration.

WEITERE INFORMATIONEN:
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Abt. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
Dr. Hans Joachim Rolf
Tel.: 0551 / 39-2835 oder -8379; Fax: 0551 / 39-12653
Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen
hrolf@uni-goettingen.de

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Stefan Weller Uni Göttingen

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