Abspalten von Zucker als Überlebenstrick

Schematische Darstellung der Lyciumosid IV-Deglykosylierung (Zuckerabspaltung) durch eine Glycosidase im Darm einer Tabakschwärmerlarve (Manduca sexta) Sagar Pandit / Max Planck Institute für chemische Ökologie

Pflanzen produzieren ein gewaltiges Arsenal von giftigen Verbindungen um sich ihrer Fraßfeinde zu entledigen. Um sicherzustellen, dass das Gift ihrer Abwehrstoffe keine nachteilige Wirkung auf die Pflanzen selbst hat, binden viele Pflanzen Zuckermoleküle an diese Substanzen.

Verdauungsenzyme im Darm der Insekten, sogenannte Glycosidasen, spalten den Zucker ab, was zu einer Freisetzung des Giftes führt − mit unangenehmen Folgen für den Schädling. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena sind jetzt auf einen Mechanismus gestoßen, der entgegengesetzt funktioniert: Sie fanden einen Abwehrstoff des Kojotentabaks Nicotiana attenuata, der mit gebundenem Zuckermolekül giftig ist.

Durch eine Glycosidase im Darm von Larven des Tabakschwärmers Manduca sexta, die einen Zucker von diesem Gift abspaltet, wird es jedoch in eine ungiftige Verbindung verwandelt. Zum ersten Mal beschrieben Forscher, dass die Abspaltung von Zucker ein Entgiftungsmechanismus als Anpassung von Insekten an die natürliche pflanzliche Abwehr sein kann. (Nature Communications, Oktober 2015).

Pflanzen binden Zucker an ihre Abwehrstoffe, um eine Selbstvergiftung zu verhindern und um den Transport und die Speicherung dieser Substanzen zu ermöglichen. Dieser Vorgang wird Glykosylierung genannt. Wenn Pflanzenschädlinge beim Fressen die glykosylierten Abwehrstoffe ihrer Wirtspflanzen aufnehmen, spalten Glycosidasen, Enzyme aus dem Darm der Insekten, die Zuckermoleküle von den Abwehrstoffen ab und die Pflanzengifte werden im Darm freigesetzt. Erst dann kann die pflanzliche Abwehr ihre volle Wirkung entfalten und sich negativ auf Wachstum und Fitness der Insekten auswirken.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie untersuchten die Abwehrstoffe im Kojotentabak Nicotiana attenuata. Sie interessierten sich besonders für eine Verbindung namens Lyciumosid IV, die drei Zuckermoleküle enthält und für Larven des Tabakschwärmers Manduca sexta giftig ist. Die Aufnahme von Lyciumosid IV mit der Nahrung kann zu einer massiven Verminderung der Körpermasse bei diesen Raupen führen.

Man hatte daher angenommen, dass die Zuckermoleküle im Darm der Insekten abgespalten würden und das so freigesetzte Gift die schädlichen Wirkungen verursacht. Allerdings kamen die Wissenschaftler in ihren Untersuchungen zu einem Ergebnis, das der gängigen Vorstellung von diesem pflanzlichen Abwehrmechanismus widerspricht: Lyciumosid IV wird gar nicht vollständig deglykosyliert, d.h. es werden nicht alle Zuckermoleküle abgespalten; außerdem ist die Verbindung selbst, nicht jedoch ihre deglykosylierte Form, giftig.

Glycosidasen im Raupendarm spalten lediglich eine Zuckergruppe von der Lyciumosid IV-Verbindung ab und wandeln sie so ein eine neue Verbindung um. Diese neue Substanz hat jedoch, anders als Lyciumosid IV, keine gesundheitsschädigende Wirkung auf die Raupen, was nahelegt, dass es sich um eine entgiftete Form von Lyciumosid IV handeln muss. Erstmals konnten Forscher zeigen, dass das Entfernen eines der Zuckermoleküle von einem pflanzlichen Abwehrstoff auch zu dessen Entgiftung führen kann.

„Dass Glycosidasen, die eine wichtige Rolle bei der Verdauung und Giftfreisetzung spielen, auch umgekehrt funktionieren und pflanzliche Abwehrstoffe entgiften können, eröffnet eine neue Dimension im Wettstreit zwischen Pflanzen und Insekten. Die Entdeckung eines ungewöhnlichen Entgiftungsmechanismus verdanken wir in erster Linie einem Forschungsansatz, der auf „reverser Genetik“ basiert und bei dem die Bedeutung von Merkmalen eines Lebewesens mittels Ausschalten der entsprechenden Gene untersucht wird. Wie sich ein so veränderter Organismus in der freien Natur verhält, wird anschließend beobachtet. Wir nennen diesen Ansatz „Frag das Insekt“ bzw. „Frag das Ökosystem“.

Die daraus gewonnenen Ergebnisse ermöglichen es uns, einen Mechanismus zu begreifen, der den bisherigen Erkenntnissen zur Rolle von Glycosidasen und zur Entgiftung pflanzlicher Abwehrstoffe vollkommen widerspricht. Insofern trägt unser unvoreingenommener Forschungsansatz wesentlich dazu bei, die Komplexität der pflanzlichen Verteidigung und der Anpassungen von Insekten besser zu verstehen,“ erläutert Sagar Pandit, der an der Studie maßgeblich mitgearbeitet hat.

Den Forschern gelang es, die Bedeutung des ungewöhnlichen Entgiftungsmechanismus für Tabakschwärmerraupen in der Natur nachzuweisen. Sie identifizierten zunächst die Glycosidase, die den Zucker von Lyciumosid IV entfernt. Anschließend generierten sie Raupen mit unterdrückter Glycosidase-Aktivität, indem sie das entsprechende Glycosidase-Gen ausschalteten, um dann den Effekt des Pflanzengifts auf die so beeinträchtigten Raupen zu untersuchen.

Das Raupengen wurde mit einer modernen Methode stillgelegt, die „pflanzenvermittelte RNA-Interferenz (RNAi)“ heißt. Bei dieser Methode werden gentechnisch veränderte Tabakpflanzen hergestellt, die das Signal zur Stilllegung eines spezifischen Gens auf Insekten übertragen, die mit den RNAi-Pflanzen gefüttert werden. Interessanterweise hatten die Raupen, deren Glycosidase-Gen ausgeschaltet worden war, nach Aufnahme von Lyciumosid IV mit der Nahrung große Probleme beim Häuten und starben schließlich. Dies legt nahe, dass die Entgiftung von Lyciumosid IV für Raupen lebensnotwendig ist, um dessen tödliche Wirkung zu verhindern.

Viele pflanzenfressende Insekten speichern toxische Verbindungen aus ihrer pflanzlichen Nahrung in bestimmten Bereichen ihres Körpers; diesen Prozess nennt man Sequestrierung. Diese Insekten nutzen die pflanzlichen Verbindungen oft zur eigenen Verteidigung gegen Räuber und Parasiten. Daher untersuchten die Wissenschaftler, ob auch Lyciumosid IV oder die entgiftete Form den Tabakschwärmer Manduca sexta gegen seine natürlichen Feinde schützt. Feldversuche mit RNAi-Raupen zeigten, dass die Wolfsspinne Camptocosa parallela, ein Fraßfeind des Tabakschwärmers, zwar etwa die gleiche Menge RNAi- und Kontrollraupen tötete, allerdings verspeiste sie deutlich weniger RNAi-Raupen, die Lyciumosid IV nicht entgiften konnten.

Raupen, die mit Lyciumosid IV bestrichen wurden, wirkten auf die Spinne sogar abschreckend. Diese Beobachtungen machten deutlich, dass Lyciumosid IV einen schützenden Effekt auf die Raupen haben könnte, würde diese die Substanz sequestrieren. Allerdings konnten die Forscher zeigen, dass der Tabakschwärmer das Pflanzengift lieber entgiftet, als es für die eigene Abwehr im Körper aufzunehmen. Offensichtlich haben die Raupen noch keinen Mechanismus entwickelt, der es ihnen ermöglicht, diesen pflanzlichen Abwehrstoff für eigene Zwecke zu nutzen. Daher müssen sie ihn entgiften, um zu überleben.

Die Wissenschaftler wollen jetzt herausfinden, ob es natürliche Varianten des Tabakschwärmers oder verwandte Manduca-Arten gibt, die bereits einen Mechanismus zur Sequestrierung entwickelt haben, ohne eine erhöhte Sterblichkeit und Häutungsprobleme aufzuweisen. Sie interessieren sich auch für die Frage, warum die Deglykosylierung sich lediglich auf die Entfernung einer Zuckergruppe beschränkt. Eine Untersuchung der Reaktionen anderer Fraßfeinde des Kojotentabaks auf dessen Gift Lyciumosid IV soll dazu beitragen, diesen speziellen pflanzlichen Verteidigungsmechanismus und die Anpassungen verschiedener Insekten weiter zu entschlüsseln. [AO]

Originalveröffentlichung:
Poreddy, S., Mitra, S., Schöttner, M., Chandran, J. N., Schneider, B., Baldwin, I. T., Kumar, P., Pandit, S. S. (2015). Detoxification of hostplant’s chemical defence rather than its anti-predator co-option drives β-glucosidase-mediated lepidopteran counter-adaptation. Nature Communications, 6:8525, doi:10.1038/ncomms9525
http://dx.doi.org/10.1038/ncomms9525

Weitere Informationen:
Sagar S. Pandit, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Hans-Knöll-Str. 8, 07743 Jena, +49 3641 57-1332, E-Mail spandit@ice.mpg.de
Ian T. Baldwin, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Hans-Knöll-Str. 8, 07743 Jena, +49 3641 57-1101, E-Mail baldwin@ice.mpg.de

Kontakt und Bildanfragen:
Angela Overmeyer M.A., Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Hans-Knöll-Str. 8, 07743 Jena, +49 3641 57-2110, E-Mail overmeyer@ice.mpg.de

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http://www.ice.mpg.de/ext/molecular-ecology.html (Abteilung Molekulare Ökologie am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie)

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