Von PISA nach Delphi oder: Welche Fragen stellt das deutsche Berufsbildungssystem?

BIBB fragt nach Forschungs- und Entwicklungsdefiziten in der beruflichen Bildung

Die Ergebnisse der PISA-Studie haben die Öffentlichkeit alarmiert – doch die ermittelten Defizite sind nicht erst seit PISA bekannt. In der beruflichen Bildung werden schon seit Jahren zahlreiche Initiativen, Programme und Modellversuche durchgeführt, um die wachsenden Schwächen bei den Schulabgängern auszugleichen, Benachteiligungen zu beheben und Stärken zu fördern. Dass dies (noch) gelingt, belegt der bisherige Ausbildungserfolg: Trotz schlechter PISA-Noten liegt der Anteil der Jugendlichen, die ohne Ausbildungsabschluss bleiben, lediglich bei 11,6%. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) wollte nun wissen: Was ist erforderlich, um das quantitative und qualitative Niveau der beruflichen Bildung in Deutschland weiter zu entwickeln und das Berufsbildungssystem bereit zu machen für Innovationen von morgen? Welche Fragen müssen gestellt, welche Antworten müssen gefunden werden, um der Berufsbildungspraxis auch in Zukunft den Erfolg zu sichern? Als methodisches Instrument wurde das Delphi-Verfahren gewählt.
(Delphi-Expertenbefragungen dienen dazu, künftige Entwicklungen in Technik, Gesellschaft und Forschung vorherzusagen und zu steuern.)

2000 Experten aus allen Bereichen der beruflichen Bildung – aus Betrieben, überbetrieblichen Einrichtungen, Berufsschulen, Kammern, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften, Berufsverbänden, Forschungseinrichtungen und der staatlichen Bildungsverwaltung – wurden erstmalig gebeten, ihre Vorschläge für zukünftige Forschungsaufgaben in der Berufsbildung zu nennen und anzugeben, welche Forschungs- und Entwicklungsarbeiten aus ihrer Sicht besonders dringlich sind.

Die Expertenvorschläge machen deutlich: Es besteht umfassender Handlungsbedarf!

  • An erster Stelle: Das Thema Berufsschule. Dringend gefordert werden konsequent praxisbezogene Aus- und Weiterbildungskonzepte für die Lehrkräfte. Insbesondere für den Unterricht in den neuen Berufen würden mehr Weiterbildungsangebote für die Lehrer benötigt. Außerdem sei eine mittel- und langfristige Bedarfsplanung von Berufsschullehrern erforderlich, die die regionale Wirtschaftsstruktur berücksichtige und frühzeitig dem Lehrermangel vor Ort vorbeuge.
  • Um benachteiligten Jugendlichen noch besser helfen zu können, wird ein Ende des „Maßnahmenpartikularismus“ gefordert. Notwendig seien langfristige Förderkonzepte, die sich von der Schulzeit über berufsvorbereitende Maßnahmen und ausbildungsbegleitende Hilfen bis zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erstreckten. An ihrer Umsetzung müssten sich alle Institutionen vor Ort, also Schulen, Jugendhilfe, Kammern, Arbeitsämter und Betriebe, beteiligen. Zudem müsse verstärkt nach Möglichkeiten gesucht werden, um das Ausbildungspotenzial von Migrantenkindern umfassend zu aktivieren (bis zu 40 % dieser Jugendlichen bleiben zur Zeit ohne Ausbildungsabschluss).
  • Strittig ist unter den Fachleuten die Entwicklung spezieller Ausbildungsberufe für leistungsschwache Jugendliche. Während die meisten Experten der Arbeitgeberseite hierin eine Möglichkeit sehen, leistungsschwachen Jugendlichen eine Arbeitsmarktchance zu eröffnen, lehnen ihre Kollegen aus den Gewerkschaften dies mehrheitlich ab.
  • Uneinigkeit zwischen den beiden Gruppen herrscht auch beim Thema Umlagefinanzierung. Im Streit der beiden Gruppen blieb die Berufsbildungsforschung bisher auf der Strecke: Angebote der Forschung, durch wissenschaftliche Untersuchungen zur Versachlichung der Debatte beizutragen, scheitern abwechselnd am Veto der einen oder anderen Seite.
  • Weitgehende Einigkeit herrscht dagegen in der Feststellung, dass die Anstrengungen des Berufsbildungssystems um die Integration leistungsschwacher Jugendlicher nicht zu Lasten der Förderung von Spitzenleistungen gehen dürfe.
  • Für besonders leistungsfähige und begabte Auszubildende müssten differenzierte Qualifizierungsmöglichkeiten entwickelt werden.
  • Der Mut zur Verantwortung sollte verstärkt zum Ausbildungsziel gemacht werden, z.B. durch neue Lehr- und Lernkonzepte zur Förderung unternehmerischer Selbständigkeit. Verantwortung hätten aber auch alle, die außerhalb der beruflichen Bildung mit den Jugendlichen zu tun hätten, so zum Beispiel die Eltern. Die Experten vermuten einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Situation im Elternhaus und dem Ausbildungserfolg des Jugendlichen und regen hierzu gesonderte Untersuchungen an.

Weitere Ergebnisse der Expertenbefragung sind veröffentlicht in dem Beitrag von Walter Brosi, Elisabeth M. Krekel und Joachim Gerd Ulrich: „Sicherung der beruflichen Zukunft: Anforderungen an Forschung und Entwicklung – Ergebnisse einer Delphi-Studie“ in der Februar-Ausgabe (1/2002) der BIBB-Zeitschrift „Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP)“. Das Heft kann zum Preis von 7,60 Euro bezogen werden beim W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG, Postfach 10 06 33, 33506 Bielefeld, Tel. 0521/911 01-11, Fax: 0521/911 01-19, E-Mail: service@wbv.de

Informationen zur Delphi-Studie enthält auch die Homepage des BIBB (siehe untenstehende Verlinkung)

Gleichzeitig weisen wir Sie auf das BIBB-Info-Telegramm Februar/2002 hin, welches Sie ebenfalls mit u.a. Link abrufen können.

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